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Ein „besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs“

Die Göttinger Polizei berichtet über heftige Auseinandersetzungen in einem Wohnheim für Geflüchtete. Das tatsächliche Ausmaß der Streitigkeiten bleibt aber ungewiss

Von Reimar Paul

Das Gelände der Flüchtlingsunterkunft an der Straße „Schützenanger“ in der Göttinger Weststadt wirkt am Mittwochmittag völlig verwaist. Kein Mensch zeigt sich auf der Freifläche zwischen den Wohnblocks. Das Büro des Sicherheitsdienstes ist abgeschlossen, an der Tür hängt ein Zettel mit der Telefonnummer des Hausmeisters. Der Wind treibt eine Plastiktüte und einen leeren Pappbecher über den Hof.

Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass hier am Vortag heftige Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern und Polizisten getobt haben könnten. Diesen Eindruck hatten nämlich zwei Pressemitteilungen der örtlichen Polizeiinspektion vermittelt. Der ersten, noch am Dienstagabend versandten Meldung zufolge waren die Beamten am Nachmittag von Mitarbeitern der Göttinger Stadtverwaltung in das Wohnheim gerufen worden – bei der „Durchsetzung des Hausrechts“ gegen einen 20 Jahre alten Bewohner der Unterkunft habe es „Probleme gegeben“, hieß es.

Als der junge Mann abtransportiert werden sollte, seien die Einsatzkräfte von 15 bis 20 „mutmaßlichen Bewohnern“ mit Gegenständen beworfen worden. Die Polizei habe daraufhin alle verfügbaren Streifenwagen aus Göttingen und der benachbarten Polizeiinspektion Northeim in den Schützenanger entsandt.Die Angreifer hätten unter anderem Fahrräder und Bretter auf die Beamten geworfen, präzisierte eine Polizeisprecherin später in einer zweiten Mitteilung. Um der Lage Herr zu werden, hätten die Polizisten schließlich Pfefferspray und „einfache körperliche Gewalt“ einsetzen müssen. „Die Gruppe der Angreifer löste sich daraufhin auf und einige Personen flüchteten vom Gelände“, hieß es weiter. Im Rahmen der eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen habe die Polizei drei der mutmaßlich Tatbeteiligten ergreifen können.

40 Beamte sollen an dem Einsatz beteiligt gewesen, drei von ihnen dabei leicht verletzt worden sein. Gestern Nachmittag hieß es, eine Polizistin und ein Polizist hätten Prellungen durch Tritte bzw. einen Schlag mit einem Rucksack erlitten. Ein weiterer Beamter habe sich während des Pfeffer­sprayeinsatzes Reizungen im Gesicht und an den Armen zugezogen. Über möglicherweise verletzte Flüchtlinge machte die Polizei keine Angaben. Die Beamten hätten die Identität von acht Tatverdächtigen festgestellt und mehrere Ermittlungsverfahren wegen eines „besonders schweren Falls des Landfriedensbruchs“ und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte eingeleitet.

Nach Angaben von Stadtsprecher Dominik Kimyon war der 20-Jährige aus Liberia im Wohnheim Schützenanger unter anderem wegen massiver Lärmbelästigung und Einschüchterung von Mitbewohnern aufgefallen. Er sei seit Februar erfolglos ermahnt worden, sein Verhalten zu ändern. „Damit wieder Ruhe in die Wohnanlage einkehren, die Wohnung entmüllt und nach einer Renovierung neu belegt werden konnte, wurde dem Betroffenen eine andere Unterkunft zugewiesen“, sagte Kimyon gestern der taz. Der Mann sei zunächst auch damit einverstanden gewesen. Als er seine Sachen holen sollte, habe er sich plötzlich geweigert, die Wohnung wieder zu verlassen.

Freunde hätten ihn dabei unterstützt und die Hauswarte bedrängt. Die Sozialarbeiterin der Anlage und eine weitere Mitarbeiterin der Stadt hätten versucht, deeskalierend auf die Männer einzureden: „Als die Zahl der Unterstützer auf ca. 20 Personen angewachsen war und die Mitarbeiter sich immer mehr bedrängt fühlten, riefen sie die Polizei.“

Das Wohnheim liegt auf dem Platz, den die Stadt Göttingen früher den sogenannten „Landfahrern“ zugewiesen hatte. Das Areal wird begrenzt von dem Flüsschen Leine, einer Kleingartenkolonie, einer Sportarena und einem großen Parkplatz. Auf dem Schützenplatz dahinter finden im Herbst und im Frühjahr Vergnügungsfeste statt, manchmal gastiert dort auch ein Zirkus oder es gibt Flohmärkte. 2016, als auch nach Göttingen viele Geflüchtete kamen, ließ die Stadt dort die Siedlung für rund 200 Personen errichten: Zweigeschossige Wohnblocks aus vorgefertigten Spanplatten, aufgeteilt in „Module“ mit Platz für bis zu vier Personen, einer Nasszelle und einer Kochnische.

Um der Lage Herr zu werden, hätten die Polizisten schließlich Pfefferspray und „einfache körperliche Gewalt“ einsetzen müssen

Vor dem Baubeginn hatte auf einer Informationsveranstaltung der Stadtverwaltung ein Vertreter des Göttinger Schützenvereins Bedenken gegen die Errichtung des Flüchtlingswohnheims geäußert. Unter den Geflüchteten seien doch auch Menschen, die durch den Krieg in ihrer Heimat traumatisiert wurden, argumentierte der Mann. Insbesondere für diese Personengruppe bedeute der in unmittelbarer Nähe der geplanten Unterkunft gelegene Schießstand doch eine erhebliche Belastung. Mit seiner als Empathie verkleideten Ablehnung des Wohnheims kam der Schützenbruder damals aber nicht durch. Dann müsse eben der Schießbetrieb eingestellt werden, lautete die Antwort aus dem Publikum und vom Podium.

Das Wohnheim ist aktuell mit 96 Personen belegt. Die meisten Bewohner kommen aus Afghanistan, Pakistan, Liberia und Cote d’Ivoire. Am Mittwochnachmittag schiebt ein Flüchtling ein Fahrrad durch das Tor. „Jaja, die Polizei war da“, antwortet er auf die Frage nach den Ereig­nissen des Vortags. „Es gab ein kleines Problem, aber kein großes Problem.“ Dann steigt er aufs Rad, lacht und fährt davon.

Der Liberianer soll inzwischen in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht worden sein.

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