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„Die Krise ist schon da“

Muharrem İnce (CHP) gilt bei den Wahlen am 24. Juni als stärkster Kandidat der Opposition. Wenn er Staatspräsident wird, möchte er die Krise im Land und mit der EU lösen

Von Çınar Özer

taz gazete: Herr İnce, der Präsidentschaftskandidat der HDP, Selahattin Demirtaş, ist seit November 2016 inhaftiert. Sie haben ihn kürzlich im Gefängnis besucht. Warum jetzt?

Muharrem İnce: Weil ich ihm als Kandidat viel Erfolg wünschen wollte. Demirtaş muss freigelassen werden. Es wirft ein schlechtes Bild auf unsere Demokratie, dass Abgeordnete für Dinge verhaftet werden, die sie gesagt haben. Ich hoffe, dass die Wahlen die Spaltung in der Gesellschaft nicht weiter vertiefen und wir auf Wahlkampfveranstaltungen über soziale Probleme reden können.

Sie haben den Wählern versprochen, „mit Gottes Erlaubnis“ den Terror zu beenden. Das hört sich sehr nach Regierungssprech an. In einer Zeit, wo Menschen wegen willkürlicher Terrorvorwürfe inhaftiert werden, sollte da nicht erst einmal klargestellt werden, was als Terror definiert wird?

Die türkische Regierung muss entschlossen gegen den Terror vorgehen. Natürlich ist es wichtig, klar zu definieren, was Terror beziehungsweise eine Straftat ist. Der Straftatbestand des Terrorismus ist erfüllt, wenn eine Organisation versucht, den Staat zu stürzen und hierzu zu gewaltsamen Methoden greift. Allerdings läuft das bei uns anders.

Inwiefern?

Es ist problematisch, was in der Türkei alles unter diesen Straftatbestand gefasst wird. Nach dem aktuellen Anti-Terror-Gesetz kann jeder, der nicht regierungskonform ist, des Terrors verdächtigt werden. Alles, was Sie sagen, kann von der Staatsanwaltschaft zum Gegenstand von Ermittlungen gemacht werden und Sie sitzen jahrelang hinter Gittern. So wie zum Beispiel der Journalist Ahmet Şık, der im Zuge des Cumhuriyet-Prozesses inhaftiert wurde. Dieses Gesetz würde in keinem anderen demokratischen Staat Bestand haben. Können Sie sich vorstellen, dass in Deutschland oder Frankreich Unsicherheit im Kampf gegen den Terror herrscht?

Im Falle einer Stichwahl würden Sie Wahlkampf für Meral Akşener (İyi-Parti) machen, vorausgesetzt, Akşener macht Sie zu Ihrem Vize. Gilt dasselbe auch für Demirtaş?

Ich bin überzeugt, dass ich die Wahl in der ersten Runde gewinne. Was ich in Bezug auf Akşener gesagt habe, war ein Scherz. Ich habe keinen Plan für eine eventuelle Stichwahl. Ich wurde als Kandidat aufgestellt, um zu gewinnen, und dafür kämpfe ich. Aber mal angenommen, es tritt die von Ihnen geschilderte Situation ein: Dann entscheiden meine Parteigenossen, wen wir unterstützen.

Umfragen zufolge würden bei einer Stichwahl die kurdischen Stimmen über den Wahlausgang entscheiden. Reicht es, kurdische Dichter zu zitieren, um Sympathie bei kurdischen Wählern zu wecken?

Die kurdische Frage ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wenn Sie die Lösung des Kurdenkonflikts zum Wahlkampf­thema machen, dann verurteilen Sie das Ganze zum Scheitern. Wer Wählerstimmen durch so ein Versprechen erlangt, verkauft bei nächster Gelegenheit genau diese Wähler. Nicht umsonst mahne ich bei jeder Veranstaltung zu Aufrichtigkeit und politischer Ethik. Ob sie uns wählen oder nicht, wir werden dieses Problem lösen. Ich verspreche, dieses Problem zu lösen. Und das ist kein leeres Wahlversprechen.

Laut einigen türkischen Ökonomen steht 2019 eine unvermeidbare Wirtschaftskrise bevor. Falls Sie die Wahlen gewinnen: Was wird Ihr Plan gegen diese Krise sein?

Die Krise ist schon da und ist schlimmer als die Krise von 2001. Das Nationaleinkommen der Türkei lag bei rund 850 Milliarden Dollar und ist aktuell auf 750 Milliarden geschrumpft. Um diesen Verlust zu kompensieren, benötigt die Türkei dringend 100 Milliarden Dollar. Mir ist bewusst, vor welchem gigantischen Problem wir stehen. Wir sind dabei, mit unserem Wirtschaftsteam ein Paket für Notmaßnahmen zu entwickeln. Die Krise rührt in erheblichem Maße von gesetzlichen Regelungen her, die die staatliche Stabilität untergraben. Die Türkei braucht diese ökonomische Sicherheit. Die Wirtschaft muss in kompetente Hände gelegt werden. Das Land hat schon viele Krisen überwunden, wir werden auch diese überwinden.

Die Beziehung zwischen EU und Türkei ist derzeit schwierig. Wird sie sich entspannen, wenn Erdoğan abgewählt wird?

Wir wollen die Konflikte mit der EU lösen. Aber ich bin mir über die Schwierigkeiten im Klaren. In der EU herrscht der Türkei gegenüber eine erhebliche Feindseligkeit, die nichts mit Erdoğan zu tun hat. Es wurden Beitrittsbedingungen zu Kapiteln gestellt, die in den achtziger und neunziger Jahren gar nicht als problematisch betrachtet wurden (Zum Beispiel in Bezug auf Justiz und Medien, Anm. d. Red.). Die meisten dieser Probleme können wir aber erst lösen, wenn die Türkei als Vollmitglied in die EU aufgenommen wird.

Was muss sich in der türkischen Außenpolitik ändern? Plädieren Sie für einen vollständigen Abzug aus Syrien?

Wir werden zu unserer „Frieden im Land, Frieden in der Welt“-Politik zurückkehren. In Bezug auf Syrien wird eine unserer Prioritäten lauten, dass das Land unter Bewahrung seiner territorialen Einheit diese schwierige Phase überwindet. Wer Syrien wie regieren soll, hat das syrische Volk zu entscheiden. Von unserer Seite kann es keine Politik geben, die fordert: „Assad soll weg“. Wenn es uns nicht gelingt, für Frieden in Syrien zu sorgen, erhöht sich die globale Bedrohung. Ein Syrien, das wieder auf eigenen Beinen steht und seine territoriale Integrität bewahrt, bedeutet auch Sicherheit für uns.

Auf Kundgebungen sagen Sie „Weder rechts noch links“, doch Sie sind Teil eines rechtslastigen Bündnisses. Warum sollen linksgerichtete Wähler einer solchen Allianz ihre Stimme geben?

Wie soll das Bündnis rechts sein, wenn wir links sind? Innerhalb des Bündnisses wählt jeder seine eigene Partei. Darüber sollte sich jeder im Klaren sein. Der Vorteil des Bündnisses betrifft die Zehnprozenthürde. Parteien, die sonst keine Chance hätten, wird ermöglicht, über die Hürde zu kommen. Auch muss man wissen, dass die Wahl des Staatspräsidenten eine andere ist als die der Abgeordneten.

Könnte Erdoğan Neuwahlen ansetzen, falls die AKP nicht die Mehrheit im Parlament bekommt? Er spricht von einem Plan B und C.

Wenn es diese Möglichkeit gibt, muss man vorbereitet sein.

Ihr Parteichef Kılıçdaroğlu sagte, früher oder später komme auch Erdoğan vor Gericht. Sagen Sie das auch?

Darüber entscheiden die unabhängigen Justizorgane. Sich zu wünschen, dass er zur Verantwortung gezogen wird, ist etwas anderes, als auch dafür zu sorgen. Wenn ich zum Staatspräsidenten gewählt werde, darf ich mir beide Haltungen nicht zu eigen ­machen.

Übersetzung: Sabine Adatepe

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