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Ohne Wahlkampf gedacht

Bei einer Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag des Solinger Brandanschlags hielt sich der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu auffallend zurück. Das „zentrale Gedenken“ in Solingen musste wetterbedingt abgebrochen werden

Aus Düsseldorf und Solingen Andreas Wyputta

Am 25. Jahrestag des Brandanschlags von Solingen hat die Mutter und Großmutter der Opfer, Mevlüde Genç, zu Versöhnung aufgerufen. „Lasst uns zum Guten nach vorne schauen“, sagte die 75-Jährige bei einer Gedenkveranstaltung in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei. „Dem Hass muss Einhalt geboten werden“, betonte Genç. Sie selbst trage in sich „keine Rache, keinen Hass – außer auf die vier Männer, die mein Haus für meine Kinder zum Grab machten“. Entgegen vieler Bedenken sprach der geladene türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu bei der Veranstaltung nicht über die anstehenden Wahlen in der Türkei.

In Solingen hatten am 29. Mai 1993 vier junge deutsche Männer, darunter zwei stadtbekannte Neonazis, das Haus von Durmuş und Mevlüde Genç mit Benzin angezündet. Zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte des Ehepaars starben. Die jüngste Tote wurde nur vier Jahre alt. Schwer verletzt wurden 17 weitere Familienmitglieder.

Anfang der Neunzigerjahre hatten CDU und CSU eine harte Kampagne zur Verschärfung des Asylrechts gefahren. Boulevardblätter wie die Bild verbreiteten Hass-Slogans wie „Das Boot ist voll“. Es folgten pogromartige Attacken auf MigrantInnen, etwa in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln – und Solingen. Mevlüde Genç forderte trotzdem schon kurz nach dem Brandanschlag zu friedlichem Zusammenleben auf: „Lasst uns Freunde sein“, erklärte sie.

„Die beeindruckendste Frau“, die er „je kennengelernt“ habe, sei die Mutter und Großmutter der Toten, sagte deshalb Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Als ehemaliger Integrationsminister hat er einen persönlichen Kontakt zur Familie: Bei der Gedenkveranstaltung nannte ihn Mevlüde Genç „meinen Bruder“. Den 25. Jahrestag des Neonazi-Mordanschlags wollte Laschet deshalb in großem Rahmen begehen: In seine Staatskanzlei hatte er Bundeskanzlerin Angela Merkel und eben den türkischen Außenminister Çavuşoğlu geladen.

Eine ursprünglich geplante Rede Çavuşoğlus im Düsseldorfer Landtag war am Widerstand von SPD und Grünen gescheitert. Der Minister des autokratischen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hatte noch vor einem Jahr in Hamburg betont, Menschen mit türkischem Migrationshintergrund blieben ohne Rücksicht auf ihre faktische Staatsbürgerschaft „Volksgenossen“. Dabei zeigte er den „Wolfsgruß“ der rechtsextremen Grauen Wölfe. Beide Parteien fürchteten deshalb, Çavuşoğlu könne die Rede im Landesparlament für Wahlkampfpropaganda nutzen.

In der Türkei hat Erdoğan für den 24. Juni Parlaments- und Präsidentschaftswahlen angesetzt. Sie könnten den Umbau des Landes in ein autoritäres Präsidialsystem, das ihm ungeahnte Machtfülle sichern soll, vollenden. Allerdings steht der Vorsitzende der Regierungspartei AKP wegen des monatelangen massiven Wertverlusts der türkischen Lira unter Druck. Ein zweiter Wahlgang wird deshalb immer wahrscheinlicher.

Bereits im Juni 2017 hatte die Bundesregierung ein Auftrittsverbot für ausländische Amtträger erlassen, das jeweils drei Monate vor wichtigen Wahlen in deren Land gelten soll. Die Gedenkveranstaltungen anlässlich des Solinger Mordanschlags seien aber kein Wahlkampf, urteilte Bundesaußenminister Heiko Maas. Der Sozialdemokrat verband die Redeerlaubnis dennoch mit einer klaren Warnung an Çavuşoğlu: „Ich gehe davon aus“, sagte Maas schon Ende April, „dass auch in der Türkei niemand ein Interesse daran hat, die Beziehungen zu Deutschland noch einmal zu verkomplizieren.“

Entsprechend zurückhaltend trat Erdoğans Minister in Laschets Staatskanzlei auf. Einziger Grund seiner Rede sei, ein Zeichen gegen „Rassismus, Xenophobie und Ausländerfeindlichkeit“ zu setzen, betonte Çavuşoğlu vor etwa 100 geladenen Gästen und Dutzenden JournalistInnen. Mehrfach ging der 50-Jährige, den türkische Oppositionelle als Nationalisten kritisieren, auf den Schmerz und die Trauer der Familie ein: Ehrerbietig nannte er Mevlüde Genç „unsere verehrte Mutter“, dann noch einmal „unserer aller Mutter“.

Auch Kanzlerin Merkel warnte vor fremdenfeindlichen „Tabubrüchen“ durch PolitikerInnen, ohne die rechtspopulistische AfD direkt zu erwähnen. „Wer mit Worten Gewalt sät, nimmt zumindest billigend in Kauf, dass auch Gewalt geerntet wird.“ Anschläge wie die von Solingen seien eine „Schande für unser Land“.

„Lasst uns zum Guten nach vorne schauen“, sagte die 75-jährige Mevlüde Genç

Çavuşoğlu verkündete nach seinem Treffen mit Merkel vor türkischen JournalistInnen prompt, die Bundeskanzlerin habe Erdoğan für die Zeit nach den Wahlen nach Berlin eingeladen – und damit den Wahlsieg des Autokraten als sicher vorausgesetzt. Aus dem Umfeld Merkels hieß es dazu nur, es komme dem Bundespräsidenten zu, den türkischen Präsidenten nach Deutschland einzuladen.

Mit Spannung war auch diskutiert worden, wie radikal sich Çavuşoğlu bei einer weiteren Veranstaltung in Solingen geben würde. Doch der Auftritt von Erdoğans Minister fiel wie der seines deutschen Amtskollegen Maas ins Wasser: Nach wolkenbruchartigen Regenfällen, die im benachbarten Wuppertal Dächer einstürzen ließen, musste das Zentrale Gedenken der Stadt von Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) abgebrochen werden. Wegen ihres engen Terminplans reisten beide Außenminister wieder ab, ohne gesprochen zu haben. Ein stilles Gedenken am Ort des Brandanschlags in der Unteren Wernerstraße fand am Abend aber trotzdem statt, ebenso wie ein interreligiöses Gebet, das Iftar-Fastenbrechen im Ramadan und ein Schweigemarsch.

Beim Zentralen Gedenken hatte Kurzbach vor etwa 1.000 Menschen noch warnen können, vor 25 Jahren habe erst die „öffentliche Sprache in Politik und Medien, die immer aggressiver wurde“, zu Mordanschlägen auf MigrantInnen geführt – und auch heute stünden die „sogenannten Fremden“ als „Gefahr für alles mögliche in unserem Land“ im Visier.

Auch Nordrhein-Westfalens Vizeministerpräsident Joachim Stamp (FDP) mahnte, die deutsche Gesellschaft werde ihrem Ziel des „Nie wieder!“ bis heute „nicht immer gerecht“. Wie Kanzlerin Merkel nannten aber weder Kurzbach noch Stamp die AfD beim Namen.

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