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Immer wieder von vorne anfangen

„Welat“, die einzige kurdische Zeitung in der Türkei, wurde immer wieder verboten. Nach dem letzten Verbot entschied sie, ausschließlich online zu publizieren

Aus Diyarbakır Figen Güneş

Ein alter Wohnblock in Diyarbakır. Neben einem auf dem Boden abgestellten Samowar stapeln sich Bücher mit dem Titel „Kurden gibt es eigentlich gar nicht“. Die in ein Büro umgewandelte Wohnung wurde als Redaktion von Welat genutzt, der einzigen kurdischsprachigen Tageszeitung in der Türkei, die kaum eine Druckerei zu drucken wagte. Nachdem die Druckerei von Welat im März unter Zwangsverwaltung gestellt worden war, vervielfältigten die Re­dak­teur*innen am selben Tag die letzte Ausgabe auf Fotokopierern und schickten sie den Abonnent*innen. Danach wurde der Druck komplett eingestellt.

Herausgeber Zeynel Abidin Bulut durchforstet das eingestaubte Archiv. Ganz oben auf dem Zeitungsstapel liegt die letzte Fotokopie-Ausgabe mit der kurdischen Schlagzeile: „Sie haben Angst vor unserer Sprache“. Dann nimmt er die 1992 erschienene erste Ausgabe zur Hand und liest die Schlagzeile vor: „Für das Leben“. Die Pflanzen in den Blumentöpfen sind vertrocknet, Stille hängt im Büro. Anzeichen von Leben gibt es hier nicht mehr. An der Wand hängen neben einem Bild von den Newroz-Feiern 2013 in Diyarbakır mehrere Fotos des PKK-Gründers Abdullah Öcalan übereinander, darauf wurden die Worte „Manifest der Freiheit“ geschrieben.

Eine Geschichte von Verbot und Neuerfindung

Bald werde dieses Büro geschlossen, von nun an würden sie versuchen, Kurd*innen in aller Welt zu erreichen, sagt Bulut: „Wir machen mit der Zeitung im Internet weiter. Unser gesamtes Archiv machen wir über unsere neue Website zugänglich. Wir haben uns an den Presseverband Belgien gewendet, künftig soll unsere Zentrale in Brüssel sein.“ In Europa zu publizieren ist von großer historischer Bedeutung für die Kontinuität kurdischer Medien.

Schon in den 1990ern, der Phase heftiger Gefechte zwischen PKK und Staat, verlegten kurdische Medien aufgrund der schweren Repressionen ihren Publika­tions­schwerpunkt nach Europa. Med TV, der erste kurdische Fernsehsender in der Geschichte der modernen Türkei, wurde in England gegründet, später wurde Brüssel zu einem Zentrum für kurdische Medien.

Auch die Gründung von Welat fällt in jene Jahre. Nachdem die UNO 1993 den 3. Mai zum Internationalen Tag der Pressefreiheit ausgerufen hatte, konnten auch kurdische Medien wachsen und breite Kreise erreichen. 1992 wurde mit Welat („Heimat“) in Istanbul die erste kurdischsprachige Tageszeitung in der Geschichte der türkischen Republik gegründet. Als sie kurz darauf verboten wurde, erschien sie unter dem Namen Welatê Me („Unsere Heimat“) von Neuem. 1996 folgte das nächste Verbot, die Zeitung musste aufgrund von Repressalien immer wieder ihren Namen ändern. Nach unzähligen Verboten und Namenswechseln kehrte Welat 2017 zu ihrem ursprünglichen Namen zurück. Seit die Zeitung im März ihre Printversion eingestellt hat, gibt es in der Türkei keine kurdischsprachige Tageszeitung mehr.

In der brennenden Hitze von Diyarbakır sitzt Zeynel Abidin Bulut im Auto, um zu einem zweiten Büro von Welat zu fahren. Im Wagen läuft ein Lied des bekannten kurdischen Sängers Ahmet Kaya; es heißt „Baskın yedim dün gece“ (Gestern Nacht gab es eine Razzia bei mir). Erst verläuft sich Bulut auf den Stockwerken, dann findet er das Büro, von dem er nicht mehr genau wusste, wo es liegt. „Wir sind Nomaden“, lacht Rojhat Bilmez, der Buchhalter von Welat, als er die Tür öffnet.

Auch wenn Welat offiziell als Zeitung registriert ist und Steuern bezahlt, unterhielt sie wegen der häufigen Razzien schon immer zwei Büros: eines an der offiziellen Redaktionsadresse und ein geheim gehaltenes Arbeitsbüro, wo sich die Archive befinden und Redaktionssitzungen abgehalten wurden. Im offiziellen Büro gibt es nur ein paar Minikameras und an den Wänden Poster mit der Aufschrift „Presse“. Der Buchhalter Bilmez erzählt, dass sie vor dem Putschversuch im Juli 2016, als die Zeitung noch Azadiya Welat hieß, 40 Mitarbeiter*innen hatten, jetzt aber nur noch 14. Dazu hätten rund 90 Verteiler*innen der Zeitung ihren Job verloren.

Kurdische Journalisten riskieren ihr Leben

„Kurdischen Journalisten droht nicht nur Arbeitslosigkeit, sie riskieren auch ihr Leben für die Arbeit“, ergänzt Bulut. Seit 1992 sind der Initiative Freie Journalisten zufolge rund 80 Welat-Reporter*innen bei ihrer Arbeit umgebracht worden. In der leeren Redaktion sticht das Foto von Rohat Aktaş ins Auge, das auf einem Tisch steht. Er war Chefredakteur von Azadiya Welat. Einem UN-Bericht zufolge wurde er 2016 während der Ausgangssperre in den kurdischen Gebieten mit Dutzenden anderen Zivilist*innen in den Kellern von Cizre verbrannt.

Herausgeber Bulut arbeitet seit elf Jahren für kurdische Medien. Er sagt, die Sorge, ob man wieder nach Hause kommen oder das Haus verlassen könne, sei alltäglich geworden. Er spricht leise, bedächtig, versinkt immer wieder in Gedanken.

Nun stellt sich die Frage, wie die digitale Ausgabe der Zeitung Menschen erreichen soll, die kein Internet nutzen. Bulut berichtet, Menschen ohne Internetzugang hätten Printausgaben in Cafés gelesen. Nach dem Putschversuch aber seien die Polizeikontrollen verschärft worden, weshalb die Cafébetreiber*innen keine Zeitungen mehr auslegen. Er sagt, Fernsehkanäle, die auf Kurdisch senden, würden Welat in ihre Nachrichtensendungen aufnehmen. So würde die Onlineversion von Welat auch Kreise erreichen, die keine Nachrichten im Internet lesen.

Die kurdischen Medien, die von den Gefängnissen in die Straßen, von Diyarbakır nach Brüssel reichen, sind offenbar entschlossen, mit wechselnden Namen und Büros den Kampf um Meinungsfreiheit in der Türkei fortzusetzen.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

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