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Musik in verwunschener Landschaft

Ostfriesland und speziell die Krummhörn sind nicht nur Austragungsorte gleich zweier Musikfestivals – des Musikalischen Sommers Ostfriesland und der Gezeitenkonzerte. Es ist auch eine Landschaft voller Geschichten, die man während einer Landpartie Schicht für Schicht erspüren kann

Krummhörn idyllisch: Zwillingsmühle in Greetsiel Foto: Ingo Wagner/dpa

Von Petra Schellen

Nach Ostfriesland zu fahren – und dort speziell in die Krummhörn zwischen Norden und Emden –, das ist eine Reise ins Märchenland. Eine so historische wie kulturelle Abenteuerfahrt zu den konkurrierenden, gleichermaßen reichhaltigen Festivals „Musikalischer Sommer Ostfriesland“ und „Gezeitenkonzerte“, die sich für eine sommerliche Landpartie anbieten. Aus einem Disput entstanden, warten sie in Kirchen, Höfen und Parks mit großen und mittelgroßen Namen auf und bieten Musik kleiner Ensembles, die von Klassik bis zu Jazz und Filmmusik reicht

Aber das ist noch nicht alles. Denn eine Fahrt in die Krummhörn bedeutet auch das Eintauchen in eine Landschaft der Häuptlinge und Burgen, der schiefen Türme und alten Orgeln, kurz: in eine Gegend, die mal reich, mal arm war, von der Pest heimgesucht, von Truppen besetzt – und die bis heute voller Geschichten ist.

Denn diese Region, wegen ihrer bogenförmigen Küste „krumme Ecke“ genannt, bildet eine höchst eigenwillige Kulturlandschaft, über die man andernorts oft wenig weiß. Das vor allem deshalb, weil man dieser Gegend, die immer wieder überflutet und neu eingedeicht wurde, der man immer mehr Land abtrotzte, zunächst nicht zutraut, im Mittelalter ein so hochkarätiges kulturelles Zentrum gewesen zu sein.

War es aber, denn die Marschen waren fruchtbar, die Bauern wohlhabend und gebildet – da leistete man sich prächtige Backsteinkirchen mit wertvollen Orgeln von Arp Schnitger und anderen renommierten Meistern. Schließlich wollte man mit den Städtern gleichziehen, die man bei Verhandlungen, auf Märkten und Ratsversammlungen traf.

Hinzu kommt, dass die Region aufgrund mehrerer Sturmfluten im 13. und 14. Jahrhundert sehr anders aussah, und von etlichen Buchten durchzogen war. Die mittelalterliche Küstenlinie ragte weit ins heutige Festland hinein. Viele im Binnenland gelegene Dörfer waren einst blühende Hafenstädte und lagen direkt an der Nordsee; Ortsnamen wie Marienhafe zeugen noch davon.

Das bedenkend, fährt man weit bewusster durch diese Gegend, die nach der Macellusflut 1219 und wieder nach der „Mandränke“ 1362 plötzlich Meeresgrund war, wo ertrunken, getrauert und wieder aufgebaut wurde. Schicht für Schicht schiebt sich ins Bewusstsein, wie veränderlich diese Landschaft ist, die der Mensch nie dauerhaft besaß. Man spürt, dies ist vom Meer geliehenes Land, man ist zu Gast nicht nur im touristischen Sinn.

Das erlebt man, während man mit dem Bus über Land fährt – und wieder, wenn man etwa in Greetsiel aussteigt, einem gut besuchten Ort aus dem 14. Jahrhundert mit malerischen Gässchen und dem historischen Hafen, von wo Ausflugsboote durch die Kanäle der Gegend starten.

Man kann aber auch zu Fuß losziehen Richtung Deich, der in großem Bogen von Greetsiel weg längs der Leybucht führt. Stunde um Stunde läuft man da oben, den gelb-roten Pilsumer Leuchtturm fest im Blick und wild entschlossen, ihn zu erwandern.

Aber dann rückt er immer wieder weg wie eine Fata Morgana, bis man aufgibt und umkehrt, trotzdem hoch zufrieden nach dieser Wanderung durch die Natur – die so auch nicht immer war: Denn das 650 Hektar große Naturschutzgebiet „Leyhörn“ haben Menschen zum Ausgleich für das 1991 eingeweihte Leysiel-Sperrwerk zwischen Deich und Meer gelegt.

Eine große, windige Weite ist es geworden, Brut- und Rastgebiet für Ringelgänse und Austernfischer, durchzogen von Wasserläufen auch für Kanuten; ein perfektes Idyll. Aber Deichbau und Küstenschutz bleiben angesichts des Klimawandels virulent, und vermutlich ist die Geschichte dieser Landschaft noch nicht zu Ende geschrieben.

Auch ihre Wirtschafts- und Sozialgeschichte ist ein stetiges Auf und Ab gewesen; nicht einmal die „Friesische Freiheit“, jene genossenschaftliche Organisation Ostfrieslands des 12./ 13. Jahrhunderts, die so viel moderner war als das Lehnswesen anderer Regionen. Doch nach Pest, Hungersnot und Sturmflut des 14. Jahrhunderts war die ostfriesische Bevölkerung zu ermattet, um sich genossenschaftlich zu betätigen – und schon konnte sich eine reiche Bauernschicht herauslösen und „Häuptlings“-Clans bilden, die nicht mehr demokratisch gewählt waren.

Um ihre Macht auch äußerlich zu demonstrieren, bauten sie ihre Steinhäuser zu Burgen aus. Die Pewsumer Manningaburg, 1458 erbaut von der gleichnamigen Familie, ist so ein Beispiel. Nur in Teilen original erhalten, goldgelb, trutzig und heute mit einem Restaurant bestückt, ist sie Besichtigungs- und Touristenort geworden. Wenig zeugt da noch von Krieg und Fehden, die 1565 dazu führten, dass die Burg an die Häuptlingsfamilie Cirksena fiel.

Auch merkt man in der heute so friedlichen Gegend wenig davon, dass ostfriesische Häuptlinge im 14. Jahrhundert mit den aus der Nordsee vertreibenen Vitalienbrüdern um Klaus Störtebeker paktierten, um ihre Macht zu sichern. Denn die Piraten waren billige Söldner, die sich mit dem Raubgut gekaperter Schiffe verpflegten und im Gegenzug lediglich Schutz und einen Absatzmarkt für ihr Raubgut forderten.

Folgerichtig, dass die Hanse ab 1408 mehrere Strafexpeditionen startete. Beendet wurde das Häuptlingswesen allerdings erst, als Kaiser Friedrich III. im Jahr 1464 Ulrich Cirksena zum Reichsgrafen erhob und ihm Ostfriesland als Lehen gab. Er befriedete die letzten Häuptlings-Fehden.

Das ist lange her, aber immer noch findet man in Pfarrbriefen, die man als Tourist hier und da mitnimmt, „Poppingas“, „tom Broks“ und andere einstige Häuptlingsnamen. Aha, ein Nachfahr der lokalen Herrscher von einst, denkt man und entwickelt schon wieder nostalgische Gefühle für diese verwunschene Gegend. Liegt es am touristischen Blick, dass die Vergangenheit hier besonders nahe scheint?

Und wie stehen die Einheimischen dazu? Für sie ist das ja normal und nicht legendenschwer, und der Busfahrer zwischen Greetsiel und Pewsum schwärmt ungerührt vom bevorstehenden Urlaub in Dubai, da sei endlich mal Urbanität. Allerdings findet er auch die Krummhörn zu dicht besiedelt, kein Vergleich zur Ruhe von früher.

Dabei ist die Krummhörn mit 80 Einwohnern pro Quadratkilometer selbst im dünn besiedelten Ostfriesland eine menschenleere Gegend. Alles eine Frage der Gewohnheit. Zu Letzterer gehörten auch die vielen mittelalterlichen Backsteinkirchen – etwa die von Suurhusen bei Aurich mit ihrem bedrohlich schiefen Turm. Das liegt am Marschboden, und das Problem ist ein regionales – weshalb die damaligen Baumeister Kirche und Turm getrennt bauten, damit im Zweifel wenigstens nur der Turm stürze und nicht das ganze Gebäude.

Das großartigste Kleinod der Krummhörn ist allerdings Rysum, das einzige noch erhaltene Warften- und Rundlingsdorf der Nordseeküste. Lange vor Erfindung des Deichbaus auf einem künstlichen Hügel angelegt, legt sich das Dorf in drei Ringen um die Kirche, die Deutschlands älteste erhaltene Orgel birgt.

Das Instrument stammt von 1457 und ist nur deshalb erhalten, weil man sie im 19. Jahrhundert aus Geldnot dann doch nicht abreißen konnte. Schön sieht das blau-graue, fein verzierte Holzgehäuse aus, gemütlich die Kirche, in der man lange verweilen kann, ja: muss, weil der Bus zurück in zwei Stunden fährt und tagsüber weder Bäcker noch Kneipe geöffnet sind. Da bleibt einem nur, im Gotteshaus zu verweilen, notgedrungen ein bisschen fromm zu werden und die große Stille zu genießen.

Musikalischer Sommer Ostfriesland: 15. 6.–29. 7.,

www.musikalischersommer.com;

Gezeitenkonzerte: bis 24. 11., www.ostfriesischelandschaft.de

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