: Der Hund, die Stadt, die Zeitung
Beobachten und Fantasieren: Das verband für Michael Rutschky Leben und Lesen
Von Dirk Knipphals
Leben und Lesen – das ging bei Herrn Rutschky (wie ihn auch nahe Menschen nannten) eine enge Verbindung ein. Einmal waren wir spazieren, der Hund schnüffelte ausgiebig an einem Laternenpfahl. „Seine Zeitung, er liest die Stadt“, sagte Herr Rutschky. Eine Bemerkung, die mir das Hundedasein ganz neu aufschloss.
Ein wenig erschrak ich dann aber auch, als ich Herrn Rutschky einmal beim Zeitungslesen beobachtet habe. Er hatte sie vor sich ausgebreitet, mit ruckartigen Kopfbewegungen nahm er die Informationen auf. Lesen als Terrainsondierung: Wer gegen wen, bei welchem Thema ist was los, was gibt’s Neues? Den Alltag entziffern und das Geschriebene beobachten, das ging bei ihm wohl Hand in Hand. Herr Rutschky sah dabei tatsächlich ein bisschen wie Pelo aus, so hieß sein damaliger Cockerspaniel.
„Erfahrungshunger“, sein bis heute bekanntestes Buch, verdankt sich der Anstrengung, die Siebzigerjahre zu lesen. Die teilweise selbstdestruktiven Tendenzen dieses Jahrzehnts versteht er als Gegenbewegung zu den längst hohl klingenden Allgemeinbegriffen der 68er-Bewegung. Gesellschaft, Revolution: Das ist inzwischen zu abstrakt geworden, nun will man konkrete Erfahrungen machen und sich spüren, auch und vielleicht gerade im Schmerz, im Kaputten und im Lärm. Es ist, nur eine Referenz von vielen, kein Wunder, dass der junge Rainald Goetz sich von Michael Rutschky entdecken lässt.
Selbstverwirklichung als Selbstzerstörung – das ist eine dieser brillanten Wendungen, vor denen Michael Rutschky sprühen konnte, nicht nur in seinen Texten, auch im Gespräch. „Bei Christian Andersen steht der Klartext in den Märchen, in seinem Tagebuch verstellt er sich.“ Zwischendurch Zitate aus Hollywood, gern aus dem „Paten“. „Machen Sie mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann.“ Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz von ihm gehört habe. Oft.
Dem neben dem Beobachten zweiten Verbindungsstück zwischen Leben und Lesen widmet sich Michael Rutschky in seinem Buch „Lebensromane“: dem Fantasieren. Die These, dass das Leben selbst literarischen Mustern folgt – man fantasiert sich seine eigenen Liebes-, Abenteuer- und Gesellschaftsromane und lebt ihnen gleichsam hinterher –, hat er nicht zu einer kohärenten Theorie ausgearbeitet; fürs Systematische war er eh nicht so. Aber es ist ein sehr anregendes Buch, und es ist seltsam, dass es außerhalb der engeren Rutschky-Zirkel fast wieder vergessen ist. Auf jeden Fall enthält es vielfältiges Material, um sich an der aktuellen Faszination für Bücher abzuarbeiten, die sich zwischen Autobiografie und Roman nicht recht entscheiden mögen, bis hin zu Knausgård.
Dass man vorgegebenen Erzählmustern hinterherlebt, hat Rutschky keineswegs als Enttäuschungs- oder Entlarvungsgeschichte aufgeschrieben, eher als eine der Bedingungen des Menschseins. „Niemand kriegt, was er sich wirklich wünscht. Deshalb machen wir ja weiter“, so lauten die ersten Sätze des Buchs – und man muss sie auch als Absage an die Utopieträume vieler seiner Generationsgenossen lesen. Deren geplatzte Träume führten in seinem Berliner Boheme-Umfeld oft genug in die Depression, die er, vielleicht auch, um sie von sich fernzuhalten, in seinen Essays oft distanziert, aber auch genau beschrieben hat. Und zugleich sind diese Sätze ganz weit weg vom deutschen Erlösungsdenken, dessen Rückseite manchmal die Selbstzerstörung ist.
Dass es immer darum geht, weiterzumachen, das ist, auch wenn es banal klingt, vielleicht die tiefste Einsicht, die er vermitteln konnte. Während ich das schreibe, habe ich gleich seine Stimme im Ohr: „Ich schenk sie Ihnen!“, rief er manchmal fröhlich, wenn man eine seiner Ideen interessant fand und er sie gerade nicht selbst für einen Text verwenden konnte. Nun, herzlichen Dank für das Geschenk. Weitermachen. Ab jetzt ohne ihn.
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