: Aus dem Tagebuch eines heimlichen Beobachters
Mehr als 15 Jahre saß Mustafa Khalifa im syrischen Knast. Seine schrecklichen Erfahrungen hat er im Roman „Die Muschel“ verarbeitet. Sie sind aktueller denn je
Text Mustafa Khalifa, Illustration Eléonore Roedel
25. Januar
Hofgang. In anderen Gefängnissen werden beim Hofgang die Gefangenen für einen begrenzten Zeitraum aus ihren Zellen gelassen. Auf dem Hof können sie Sport treiben, und sie können ihren Bedarf an Frischluft, Sonne und Bewegung stillen.
Hier bei uns müssen sich die Gefangenen vor dem Hofgang in der Zelle in einer gewundenen Schlange hintereinander aufstellen, dann öffnen die Militärpolizisten die Tür, und langsam bewegt sich die Schlange hinaus. Die Köpfe sind gebeugt, die Augen geschlossen, jeder Gefangene hält sich an den Kleidern seines Vordermanns fest. Die Militärpolizei und die Baladiyyat[1]sind über den ganzen Hof verteilt. Die Schlange bewegt sich langsam oder schnell, je nach Lust und Laune des Feldwebels.
Der Montag und der Donnerstag unterscheiden sich von den anderen Wochentagen. An diesen beiden Tagen werden die Todesstrafen vollzogen, deshalb wird an diesen Tagen beim Hofgang noch mehr gefoltert und geprügelt, meistens auf den Kopf.
„Du Hundesohn … warum hebst du den Kopf?“
Und schon saust die Peitsche auf den Kopf nieder.
„Verdammter Hurensohn! Warum machst du die Augen auf?!“
Und schon saust die Peitsche auf den Kopf nieder.
Im Sommer wird weniger gequält. Die Sonne, die auf unsere Köpfe brennt, lässt die Polizisten faul werden; sie haben keine Lust, sich zu bewegen. Im Winter nimmt die Folter wieder zu.
Manchmal, wenn die Schlange ihre Runden dreht, versammeln sich einige Militärpolizisten um die Feldwebel, wir hören nicht, was sie miteinander sprechen, doch plötzlich bekommen sie Appetit, sich mit uns die Zeit zu vertreiben. Der Feldwebel brüllt:
„Du Scheißkerl, du … ja, du da, der größte da in der Reihe, los, komm her!“
Einer der Baladiyyat läuft los und zieht den größten von uns aus der Schlange heraus. Er ist über zwei Meter groß. Der Feldwebel sitzt auf einem Zementblock wie auf einem Stuhl, hat ein Bein über das andere geschlagen, drückt die Brust raus, legt den Kopf nach hinten und sagt:
„Du Scheißkerl … bist du ein Mensch oder eine Giraffe?“
Die Umstehenden grölen. Er setzt hinzu:
„Und jetzt … wirst du fünf Mal um den Platz laufen und ein Geräusch wie eine Giraffe machen … los, beeil dich!“
Der Gefangene läuft los und gibt Geräusche von sich. Niemand weiß, welches Geräusch Giraffen machen, ich glaube, auch der Feldwebel weiß das nicht. Der Gefangene läuft drei Runden, dann bleibt er stehen. Der Feldwebel ruft:
„Und jetzt, du Scheißkerl, wirst du wiehern wie ein Esel!“
Der großgewachsene Gefangene wiehert, die Polizisten lachen.
„Und jetzt bell wie ein Hund!“
Der Gefangene bellt. Die Polizisten lachen. Der Feldwebel schüttelt sich vor Lachen und sagt:
„Ja, ja, du Scheißkerl, das war gut, das war sehr gut … du bist wirklich wie Hund.“
Dann dreht er sich zu der Schlange der Gefangenen um, die mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen dastehen, und brüllt:
„He, du Scheißkerl, du, ja du, der Kleinste von euch, komm her!“
Einer der Baladiyyat zieht den Kleinsten aus der Reihe. Ein Junge, der kaum fünfzehn Jahre alt ist. Er misst etwas mehr als anderthalb Meter. Er steht vor dem Feldwebel, der lacht und sagt:
„Du Scheißkerl, du Knirps, stell dich da vor diesen großen Hund!“
Der kleine Gefangene stellt sich vor den großen Gefangenen, dann brüllt der Feldwebel:
„He, Großer, jetzt wirst du bellen und dann wirst du diesen Hund da vor dir beißen und ihm ein Stück aus der Schulter reißen. Und wenn du es nicht machst, dann setzt es tausend Schläge mit der Peitsche.“
Der große Gefangene bellt drei oder vier Mal hintereinander, geht auf den Kleinen zu, beugt sich hinunter und schlägt seine Kiefer in die Schulter des Jungen, der vor Schmerz aufschreit und sich dem Biss zu entwinden versucht.
„Hey, großer Scheißkerl, wo ist das Stück Fleisch? Polizisten, holt ihn euch!“
Die Militärpolizisten lassen ihre Peitschen auf den großgewachsenen Gefangenen niedersausen, so dass dieser auf die Knie geht und nun so groß ist wie der Junge. Er taumelt. Der Feldwebel schreit:
„Genug! “ Die Polizisten hören auf zu schlagen. „Hey, großer Scheißkerl, steh auf!“
Der Gefangene steht auf.
„Und du, kleiner Scheißer, stell dich hinter ihn!“
Der Junge stellt sich hinter den Hochgewachsenen.
„Und jetzt zieht euch beide aus!“
Die Story In „Die Muschel“ erzählt Mustafa Khalifa die Geschichte des Syrers Musa, der Anfang der achtziger Jahre nach seinem Studium in Frankreich nach Syrien zurückkehrt. Am Flughafen wird er verhaftet und beschuldigt, der Organisation der Muslimbrüder anzugehören, worauf seit 1980 in Syrien die Todesstrafe steht. Lange Zeit glaubt Musa an eine Verwechslung, denn er entstammt einer christlichen Familie und bezeichnet sich selbst als Atheisten. Aber es dauert 13 Jahre, bis er das Gefängnis wieder verlassen kann. In dem berüchtigten Militärgefängnis Tadmor wird er Zeuge grauenhafter Menschenrechtsverletzungen.
Der Autor „Die Muschel“ ist der erste Roman des syrischen Schriftstellers Mustafa Khalifa. 1948 im syrischen Dscharabulus geboren, zog es ihn bald nach Aleppo, wo er sich früh politisch zu engagieren begann. Zwei Mal wurde er verhaftet und verbrachte beim zweiten Mal 15 Jahre in verschiedenen Gefängnissen, vor allem in Sidnaya und in Tadmor. 2006 emigrierte er in die Vereinigten Arabischen Emirate und lebt heute in Paris. 2016 erschien sein zweiter Roman mit dem Titel „Tanz der Gräber“ im Libanon.
Mustafa Khalifa: „Die Muschel. Tagebuch eines heimlichen Beobachters“. Dar al-Adab, Beirut 2008 (original Arabisch, bisher übersetzt ins Englische, Französische u. Spanische)
Beide ziehen ihre Kleider aus und stehen in Unterhosen da.
„Hey, Kleiner, zieh ihm die Unterhose nach unten!“
Der Junge zieht dem Großen die Unterhose bis zu den Knien.
„Und jetzt du deine!“
Der Kleine zieht seine eigene Unterhose runter.
„Und jetzt geh zu ihm und fick ihn, mach mit ihm, was ihr jede Nacht miteinander macht, ihr schwulen Säue … Los, ran an ihn, fick ihn!“
Der Kleine zögert. Der Große drückt seine Pobacken zusammen. Der Feldwebel gibt einem der Militärpolizisten ein Zeichen, der kommt näher und lässt die Peitsche auf den Rücken des Jungen niedergehen … Der Junge drückt sich von hinten an den Großen, der Große erbebt, der Penis des Jungen befindet sich etwa in Höhe der Knie des Großen. Der Feldwebel lacht, auch die Polizisten lachen.
Die Schlange bewegt sich vorwärts, die Köpfe sind gesenkt, die Augen geschlossen, trotzdem sehen es alle, hören es alle … Der Hass und die Schmach werden größer.
Der Feldwebel befiehlt, die Positionen zu tauschen. Nun steht der Große hinter dem Kleinen. Sein schlaffer und zusammengeschrumpfter Penis befindet sich auf der Höhe des Rückens des Jungen … Es wird weiter gelacht …
Die Schlange bewegt sich vorwärts, die Köpfe sind gesenkt, die Augen geschlossen. (…)
22. Februar
Am frühen Morgen, noch bevor das Essen hereingebracht wurde, öffneten die Militärpolizisten die Zellentür und stürmten herein. Man hätte meinen können, hundert Stiere würden in die Zelle einfallen. Gebrüll, Peitschenschläge, Beleidigungen, dazwischen schrien sie:
„Gesichter zur Wand, los, die Gesichter zur Wand!“
Die Gefangenen waren, kaum war der erste Polizist in der Zelle, aufgesprungen und hatten sich mit den Gesichtern zur Wand gedreht. Ich stand da und wusste nicht, was ich tun sollte.
Ich kam erst durch die Peitsche zu mir, die mir ins Gesicht schlug und sich dann um meine Hals drehte. Der Polizist brüllte:
„Gesicht zur Wand!“
Ich drehte mich um, ich erstarrte, der stechende Schmerz breitete sich vom Gesicht bis zum Hals aus. Nach etwa fünf Minuten wurde es still, dann war die laute Stimme einer der Polizisten zu hören:
„Aufgepasst … an eure Plätze, stillgestanden!“
Die Militärpolizisten stampften auf den Boden, dann schrie er noch lauter:
„Die Zelle ist bereit, Herr Oberstleutnant!“
Das war der Gefängnisdirektor. Er ging vom Anfang der Zelle bis zum Ende durch ein von den Polizisten in Habachtstellung gebildetes Spalier. Mich packte die Neugier, unwillkürlich schaute ich den Oberstleutnant verstohlen an. Er war ein Mann in den Dreißigern, blond, sein Gang hatte etwas Angespanntes, auch seine Sprechweise. Er schien eher mit sich selbst zu reden, ich konnte die Worte kaum verstehen oder miteinander in Verbindung bringen:
„Mir … Mir droht man … Ich werde eine Hölle … Auch nur ein Haar … Dafür werden tausend Verbrecher …“
Dann rief er mit gepresster Stimme:
„Ihr Hundesöhne … ihr Verbrecher … ihr kennt mich noch nicht … ich werde euch abschlachten wie Vieh!“
Der Aufstand Der 15. März 2011 gilt als Auslöser des syrischen Bürgerkriegs. Heute vor sieben Jahren malten Kinder, inspiriert durch die Fernsehberichterstattung über den Sturz von Diktatoren in der arabischen Welt, in der Stadt Daraa im Süden Syriens Parolen gegen Präsident Baschar al-Assad an eine Wand. Sie wurden ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Die Proteste dagegen wurden mit Gewalt unterdrückt. Ein Demonstrant starb. So begann der Aufstand gegen den Präsidenten. Angesichts der Angriffe des Regimes auf die Demonstranten und die zahlreichen Toten unter ihnen begann eine sehr kontroverse Debatte über die Aufnahme des bewaffneten Kampfes gegen das Assad-Regime. Im Juli 2011 gründeten Deserteure der syrischen Armee die „Freie Syrische Armee“.
Die Gefängnisse Mit der breiten Protestbewegung füllten sich bald auch die Gefängnisse. Für Syrien war das beileibe nichts Neues. Nach dem Aufstand in Hama im Jahr 1982, bei dem ganze Viertel der Stadt zerstört wurden, sind sich die Experten bis heute nicht einig, wie viele Menschen anschließend in dem berüchtigten Gefängnis Tadmor bei Palmyra getötet wurden. 20.000? 40.000? Heute sind die Verbrechen des Regimes in den Gefängnissen vergleichsweise gut dokumentiert – unter anderem dank „Caesar“, dem Mitarbeiter eines Gefängnisses, der 28.707 Fotos von Folteropfern außer Landes schaffte. (bs)
Dann brüllten einige Polizisten, die zwischen ihm und den Gefangenen standen:
„Weg da … zur Seite …!“
Es folgten mehrere Schüsse. Ich machte mich klein, zog den Kopf ein. Dann verschwand der Oberstleutnant in aller Eile, eine ganze Reihe von Polizisten hinter sich herziehend, und schloss die Tür.
Vierzehn Tote, vierzehn Kugeln, offensichtlich das komplette Magazin des Oberstleutnants. Die Ärzte aus unserer Zelle, unter ihnen Zahi, liefen in die Ecke, wo die Erschossenen lagen. Sie untersuchten sie, alle waren sofort tot gewesen. Alle hatten ein Loch im Hinterkopf. Die Ärzte zogen sie in die Mitte der Zelle, wo sich eine Blutlache bildete. Manche setzten sich daneben und weinten, die meisten aber waren regungslos erstarrt. Die Ärzte waren unschlüssig, sie wussten nicht, was sie tun sollten. Einer aus der Gruppe der Fedaijin[2]stand auf und sagte:
„Keine Macht und keine Kraft außer bei Gott! Von Gott kommen wir und zu Gott kehren wir zurück. Sie sind uns vorausgegangen, wir werden ihnen folgen. Gott, lass sie in Deinem weiten Paradies wohnen. Sie sind Märtyrer auf dem Weg Deines Wortes, des Wortes der Wahrheit, erbarme Dich ihrer, Du, der Du Dich erbarmst, Du, der Du verzeihst!“
Er schwieg einen Augenblick, dann wandte er sich an die anderen:
„Los Brüder, lasst uns unsere Pflicht tun!“
Sie warteten ab, bis die Leichen nicht mehr bluteten, dann hoben sie sie hoch und legten sie in die Nähe der Tür, vor mich und den Zellenanführer. Unter den Toten war auch Scheich Mahmoud, der mir das Leben gerettet hatte. Ich sprach heimlich ein Gebet für ihn. Ich trauerte um alle, denn ich hatte mich an ihre Gesichter gewöhnt, aber besonders trauerte ich um Scheich Mahmoud.
Sie wischten das Blut vom Boden und wuschen die blutbesudelten Decken. Dann kam es beim Zellenanführer zu einer Diskussion zwischen zwei Gruppen. Die einen sagten, wir müssten alle ihre Kleidungsstücke an uns nehmen, denn Lebende seien wichtiger als Tote. Die anderen fanden das schändlich. Am Ende siegte die Gruppe, die behauptete, dass die Überlebenden die Kleidung brauchen würden. Einigen wurde die Aufgabe übertragen, den Leichen die Kleidungsstücke auszuziehen und sie zu waschen. Als die Leichname nachts aus der Zelle gebracht wurden, waren sie bis auf die Unterhosen nackt.
Drei Jahre später erfuhren wir von einem Neuankömmling den Grund für dieses Blutbad: Der bewaffnete Arm der Organisation hatte dem Oberstleutnant eine Drohung zukommen lassen, ihn zu töten, wenn die Behandlung der islamischen Gefangenen sich nicht bessern würde. Diese Drohung hatte der Oberstleutnant unter dem Scheibenwischer seines Autos gefunden, als er morgens zur Arbeit fahren wollte. Deshalb habe er die Männer umgebracht. Und er habe die Nachricht außerhalb des Gefängnisses verbreiten lassen, damit die Organisation davon erfahre. Außerdem habe er seinerseits eine Drohung mitschickt:
„Für ein beschriebenes Blatt Papier habe ich vierzehn Männer getötet! Wenn mir oder einer mir nahestehenden Person auch nur ein Haar gekrümmt werden sollte, werden es hundert Männer sein. Und wenn einem meiner Verwandten etwas zuleide getan oder einer von ihnen umgebracht wird, werde ich niemanden am Leben lassen!“
Danach hörten die Drohungen auf.
Unsere Zelle lag ganz in der Nähe der Hintertür des Gefängnisses. Durch diese Tür wurde das Essen hereingebracht. Der russische Transporter parkte dort, und die Baladiyyat holten die großen Essenstöpfe aus dem Wagen. Durch diese Tür und mit diesen gleichen Transportern wurden auch jede Nacht die Leichen weggebracht. Durch den Aufprall der Körper auf der Ladefläche wussten wir, wie viele an einem Tag gestorben waren. Am Tag des Besuchs des Oberstleutnants hörten wir Gefangene dreiundzwanzig Mal das Geräusch des Aufpralls, und durch die Gruppe der Nachrichtenübermittler, die für die Weitergabe von Informationen durch Morsezeichen zuständig war, erfuhren es alle im ganzen Gefängnis und bewahrten dieses Ereignis für immer in ihrem Gedächtnis.
Übersetzung aus dem Arabischen Larissa Bender. Abdruck mit freund-licher Genehmigung des Autors.
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