Verfassungsschützer verstoßen gegen Verfassung

Rechtswidrig, unverhältnismäßig und anlasslos war die jahrzehntelange Überwachung des Bremer Menschenrechtsanwalts Rolf Gössner durch den Verfassungsschutz. Das hat jetzt das Oberverwaltungsgericht Münster bestätigt

Wurde 38 Jahre lang rechtswidrig überwacht: Rolf Gössner Foto: Christoph Schmidt/dpa

Aus Münster Benno Schirrmeister

Die 38-jährige Bespitzelung des Bremer Menschenrechtlers Rolf Gössner durch den Verfassungsschutz war von Anfang an rechtswidrig und unverhältnismäßig. Diese Einschätzung, zu der das Kölner Verwaltungsgericht bereits vor sieben Jahren kam, hat am Dienstagabend der 16. Senat des Oberverwaltungsgerichts (OVG) in Münster in der Berufungsverhandlung bestätigt. Es hat damit erneut dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bescheinigt, dauerhaft die vornehmsten persönlichen Rechte verletzt zu haben, die das Grundgesetz jedem garantiert.

Die stehen nach Auffassung des OVG Münster nämlich auch Gössner zu. Der Publizist, Politikwissenschaftler und Rechtsanwalt, der 2007 zum stellvertretenden Richter am Bremer Staatsgerichtshof gewählt worden ist, hatte mit Verweis nicht nur auf die Bluttaten des NSU in einer persönlichen Stellungnahme darauf hingewiesen, dass der Inlandsgeheimdienst durch seine „Verwicklung in Neonaziszenen und -parteien“ schon mehrfach „selbst zu einer Gefahr für Verfassung, Rechtsstaat und Demokratie geworden“ sei. Seine eigene harsche Kritik, die im Verfahren als „Diffamierung“und „Verunglimpfung“ diskreditiert worden sei, habe sich leider bestätigt und sei sogar „von der Wirklichkeit übertroffen“ worden.

Spitzelberichte über Gössner hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz von 1970 an gesammelt. Beendet wurde diese längste bisher bekannte Überwachung einer Einzelperson in der Geschichte der Bundesrepublik im Jahr 2008 ebenso anlassarm, wie sie einst begonnen hatte: Hatte es damals gereicht, dass Gössner beim Sozialdemokratischen Studentenbund ohne Mitglied zu sein einige Monate im Vorstand mitwirkte, entschieden die Kölner Verfassungsschützer 2008, dass sich die Bedrohungslage geändert habe. Worin diese Änderung in dem vergleichsweise ereignisarmen Jahr gelegen haben mag, bleibt schleierhaft.

Der Verdacht liegt indes nahe, dass es opportun schien, ein paar Härten abzuräumen, nachdem Gössner zwei Jahre zuvor Klage eingereicht hatte. Möglich, dass man sich in dem drohenden Verfahren wenigstens nicht vorwerfen lassen wollte, jemanden weiterhin zu bespitzeln, der von der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, mit der Theodor-Heuss-Medaille für sein Engagement als Herausgeber des „Grundrechte-Reports“ geehrt worden war, und der Jahre zuvor als wissenschaftlicher Mitarbeiter der niedersächsischen Grünenfraktion der Schröder-Regierung dabei geholfen hatte, ein grundgesetzkonformes Landesverfassungsschutzgesetz auszuarbeiten.

Die Geheimdienstler bewerteten indes seine Tätigkeiten ganz anders: Gössner habe das Ziel der „Abschaffung wesentlicher Kernelemente der Verfassungsordnung“ verfolgt, so hatte es in den Schriftsätzen aus der renommierten Kanzlei Redeker Sellner Dahs geheißen, mit denen die Bundesrepublik gegen den Publizisten zu Felde gezogen war. Dass er kein Mitglied der DKP oder irgendeiner anderen extremistischen Organisation war, mache ihn nur umso verdächtiger.

Als besonders schwerwiegend empfand man in Köln, dass Gössner der Redaktion der geheimdienst- und polizeikritischen Zeitschrift „Geheim“ angehört hatte. Nach bis heute nicht wirklich belegter Darstellung des BfV wäre die nämlich durch die Stasi unterwandert gewesen. All dies habe Gössner unternommen, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch eine sozialistische zu ersetzen. Um den Vorgang zu beschleunigen, hätte er zunächst einmal versucht, mithilfe der Vierteljahresschrift den Verfassungsschutz zu beseitigen, dieses Bollwerk der Demokratie.

Beginn der Überwachung war 1970, erfahren von seiner BfV-Akte hat Rolf Gössner 1995, und Klage auf Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit hat er 2006 beim Verwaltungsgericht Köln eingereicht.

Zwei Jahre später stellt der Geheimdienst die Beobachtung wegen einer „veränderten Bedrohungslage“ ein.

Im Urteil kommt das VG Köln am 3. Februar 2011 zu der Einschätzung, dass die 38-jährige Spähattacke als „schwerwiegender Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Positionen“ zu bewerten und jederzeit sowohl rechtswidrig als auch unverhältnismäßig gewesen sei (VG Köln 20 K 2331/08).

Nordrhein-Westfalens Verfassungsschutz akzeptiert im selben Jahr eine Entscheidung des VG Düsseldorf, laut der es seine Daten rechtswidrig gespeichert hatte (22 K 4905/08).

Am 13. März bestätigt der 16. Senat des Oberverwaltungsgerichts Münster das Kölner Urteil in vollem Umfang (16 A 906/11).

Ja, das klingt wirr und schwer nachvollziehbar: „Ein denunziatorisches Feind- und Zerrbild, in dem ich mich nicht wieder erkenne – und vor dem ich selbst erschrecken würde“, hat Gössner die aufgrund der Berichte und von Verfassungsschutzzuträgern und deren einseitiger Interpretation zusammengepuzzelte Darstellung seiner selbst genannt. „Letztlich geht es um die Deutungshoheit über ein ganzes politisches und berufliches Leben und über berufliche Kontakte, deren sich der Verfassungsschutz mit seiner obsessiven Gesinnungskontrolle bemächtigt“ habe.

Einen weiteren Teil davon hat er sich jetzt gleichsam zurückerobert. Während Anwalt Wolfgang Roth als Verfahrensbevollmächtigter des Bundes darauf beharrte, unter den Äußerungen Gössners seien „einige, auch wenn er das jetzt wieder bestreitet, nicht interpretationsbedürftig und klar gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet“, mochten auch die Münsteraner RichterInnen dieser Deutung nicht folgen: „Konkrete Anhalts­punkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen“ hätten sie keine gefunden. Und die alleine hätten ja eine Überwachung rechtfertigen können. Dass die mit der Überwachung einhergehenden Grundrechtseingriffe darüber hinaus auch „unverhältnismäßig gewesen“ seien, ergibt sich aus der Nichtigkeit ihres Anlasses fast schon zwingend.

Als „Meilenstein“ bezeichnete Gössners Anwalt Udo Kauß die Entscheidung. „Es ist ein gerichtlicher Sieg gegen einen übergriffigen Inlandsgeheimdienst.“ Erleichtert zeigte sich auch Gössner: „Wenn diese Entscheidung rechtskräftig wird, dann müsste das Auswirkungen auf die Intensität der Überwachung haben“, sagte er, „insbesondere von nicht parteigebundenen Einzelpersonen“. Einziger Wermutstropfen: Bis dahin kann es noch eine ganze Weile dauern. Denn der OVG-Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht zugelassen. „Wir müssen wie stets in solchen Fällen zunächst die schriftliche Urteilsbegründung abwarten“, teilte eine Sprecherin des Bundesamtes am Mittwoch auf Nachfrage der taz mit. „Erst nach deren Prüfung können wir entscheiden, ob wir Revision einlegen.“