Können Menschen Winter- schlaf?

Der Winter lässt auch unsere innere Uhr nicht kalt. Und in Ostdeutschland steht man früher auf. Über die Chronobiologie des Menschen

Von Stephanie Grimm

Sich einfach die Decke über den Kopf ziehen, die kalte, dunkle Jahreszeit verschlafen und erst dann aufwachen, wenn die Tage wieder länger sind als die Nächte, wenn der Eröffnungstermin fürs Freibad in greifbare Nähe gerückt ist. Winterschlaf halten. Und damit am besten auch noch den Alterungsprozess auf Eis legen. Das wär’s doch.

Ach, was für eine schöne Fantasie für jeden Winterhasser. Und auch die Weltraumforschung schaut neugierig auf die Fähigkeiten von Igeln, Fledermäusen und Bilchen. Schließlich wäre es etwa für Missionen auf fernere Planeten durchaus sinnvoll, die Astronauten für die Reisedauer schlafen lassen zu können.

Leider scheint der menschliche Organismus für ein absichtliches Herunterfahren der Körperfunktionen nicht gemacht. Doch in den letzten zwei Jahrzehnten gab es Erkenntnisse, die bisherige Annahmen immerhin ein wenig in Frage stellen. So entdeckte man 2004, dass der Westliche Fettschwanzmaki, eine Primatenart auf Madagaskar, in den winterschlafähnlichen Torpor verfällt. Nur eben, dass es beim Maki die extreme Hitze ist, welche die Ästivation – so der Fachbegriff der Sommerruhe – auslöst.

Bisher war man davon ausgegangen, dass keiner der Primaten Winterschlaf hält. Doch nach dieser Entdeckung fand man heraus: Auch der Mensch besitzt die Gene, die es den Fettschwanzmakis ermöglicht, von Kohlenhydrat- auf Fettverbrennung umzuschalten.

Für Erstaunen unter Wissenschaftlern sorgte 2006 auch Mit­su­ta­ka Uchikoshi. Der Japaner hatte 24 Tage lang ohne Nahrung und Wasser überlebt, nachdem er sich beim Wandern das Becken gebrochen hatte. Seine Körpertemperatur war auf 22 Grad gesunken, die Organe liefen auf Sparflamme. Erinnern konnte sich Uchikoshi nur an den Tag nach dem Sturz. Die restlichen drei Wochen hatte der damals 35-Jährige anscheinend in einem winterschlafähnlichen Zustand verbracht – so dass seinem Organismus trotz Außentemperaturen von nur 10 Grad ausreichend Energie blieb, zentrale Funktionen aufrechtzuerhalten.

Doch kann der menschliche Körper autonom in einen solchen Modus schalten? Das ist durch den Japaner und einige ähnlich gelagerte Fälle nicht belegt. Attraktiv wäre dieser Zustand für wintermüde Menschen allerdings ohnehin nicht. Schließlich handelt es sich dabei um etwas grundlegend anderes als den Schlaf, den wir schätzen. Damit die regenerativen Prozesse, die unsere Nachtruhe erholsam machen, ablaufen können, muss der Körper „Betriebstemperatur“ haben. Tiere jedenfalls erwachen aus ihrem Winterschlaf mit einem gehörigen Schlafdefizit. Und manche auch mit einem Erinnerungsverlust.

Ein Pendant zur tierischen Winterruhe wäre da schon attraktiver, um über die kritischen Monate zu kommen. So berichtete etwa das British Medical Journal im Jahr 1900 von Bauern in Sibirien, die sich aufgrund knapper Nahrungsressourcen mit dem ersten Schnee in eine gemeinsame Bettstatt zurückzogen und nur einmal am Tag kurz aufstanden, um sich mit Wasser und Brot zu stärken. Den Rest der Zeit verschliefen sie. „Lotska“ hieß diese Art des Winterruhe.

Man darf davon ausgehen, dass auch in unseren Breitengraden die Lebensrhythmen in vorindustriellen Zeiten noch viel stärker als heute von den Jahreszeiten geprägt waren. Die meisten Menschen arbeiteten in der Landwirtschaft. Im arbeitsintensiven Sommer nutzte man die langen, hellen Tage, die endlosen Winternächte der Vegetationspause dagegen verdöste man – nicht zuletzt, weil es außerhalb des Bettes so ungemütlich war.

Selbst heute, in unserer elektrifizierten und künstlich erleuchteten Welt haben Sonnenaufgang und -untergang Einfluss auf unsere Schlafmuster. Die Chronobiologie, also vereinfacht gesagt: die Wissenschaft davon, wie und wieso unsere inneren Uhren ticken, will herausgefunden haben, dass wir im Winter mehr Schlaf brauchen. Allerdings längst nicht so viel, wie man ­glauben könnte: Der an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität forschende Chronobiologe Till Roenneberg spricht lediglich von einem durchschnittlich zwanzig Minuten größeren Schlafbedarf als in den Sommermonaten.

Und der kommt wohl dadurch zustande, dass wir im Winter schlechter schlafen. Durch die trüben Lichtverhältnisse verflacht der Kontrast zwischen Tag und Nacht, wodurch der nächtliche Schlaf weniger erholsam wird. Um müde zu werden, muss man schließlich erst einmal richtig wach gewesen sein. Der Lichtmangel lässt die Melatoninproduktion morgens langsamer abebben, zugleich setzt sie abends früher ein. Man hat im Verlauf eines Tages mehr von dem Schlafhormon im System – und würde sich dementsprechend bisweilen am liebsten ins Bett legen. In den Wintermonaten verbringen wir viel Zeit in einer Grauzone – hormonell wie auch lichttechnisch. Die Chronobiologie hält noch mehr Überraschendes bereit. Till Roenneberg konnte belegen, dass Menschen in Ostdeutschland früher ins Bett gehen und aufstehen als jene im Westen des Landes. Die Gründe sind seiner Einschätzung nach keine soziokulturellen, er macht den Sonnenstand verantwortlich: Am östlichsten Punkt Deutschlands wird es immerhin eine gute halbe Stunde früher hell (und abends dann auch dunkel) als am westlichsten.

Zumindest in den Wintermonaten, das ergaben Roennebergs Untersuchungen, steht der Durchschnittsdeutsche an arbeitsfreien Tagen entsprechend des Längengrads auf, an dem er lebt: mit jedem Längengrad beträgt die Verschiebung circa vier Minuten. Für Menschen auf dem Land gilt das übrigens, wenig überraschend, eher als für Städter.

Doch ganz egal, wo man lebt – bald werden wir das Gröbste, sprich: Dunkelste hinter uns haben. Auch im Frühling bleibt aber ein chronobiologisches Bewusstsein hilfreich: Regelmäßige Tageslichtduschen vertreiben garantiert die Reste der winterlichen Schläfrigkeit.

Stephanie Grimm, 48, ist Autorin des Buchs „Schlaft doch, wie ihr wollt“ (Pantheon Verlag). Sie geht im Sommer wie im Winter meist zu spät ins Bett.