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Mama, mir geht es gut!

Mit „Erschlagt die Armen!“ und „Am Kältepol. Erzählungen aus dem Gulag“ ruft das Münchner Residenztheater die Probleme des französischen Asylsystems und das Grauen des Stalinismus ins Bewusstsein

Von Sabine Leucht

Wie kann man das Unvorstellbare auf die Bühne bringen? Zwei Antworten darauf gibt derzeit das Münchner Residenztheater, wo am Wochenende Zino Wey den vieldiskutierten Roman „Erschlagt die Armen!“ inszenierte. Tags darauf blickt man aus der Rokoko-Pracht des Cuvilliéstheaters auf einen Zwitter aus TV-Studio und Lagerhalle, worin der russische Regisseur Timofei Kuljabin in dem Stück „Im Kältepol“ vom Gulag erzählt.

Der Container ist nur mit seiner vergilbten Rückseite zu sehen, was zum provisorisch wirkenden Setting passt. Und auch, dass Hanna Scheibe an einem schwach beleuchteten Pult sitzend die erste von sechs Geschichten aus Warlam Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“ liest. Die Bilder dazu erzeugen Nora Buzalka, Sibylle Canonica, Pauline Fusban, Anna Graenzer und Charlotte Schwab innerhalb des Containers, wo sie wie Puppen auf Pritschen liegen oder das blutige Gesicht eines Sterbenden in die Live-Kamera halten, die das für die Zuschauer Unsichtbare auf eine über der Bühne hängende Leinwand überträgt. Der Kameramann, der wie die Bühnenarbeiter immer wieder selbst ins Bild kommt, fährt nah an die Textur der zerschlissenen Lumpen heran, die die Schauspielerinnen tragen.

Dass es ausschließlich Frauen sind, die hier spielen und abwechselnd lesen, soll wie der Blick in die Eingeweide der Erzählmaschinerie das unvorstellbare Grauen brechen – oder „filtern“, wie Kuljabin sagt –, das Schalamow bereits durch den Filter seiner nüchtern-lakonischen Sprache gejagt hat. Ab 1928, damals fast noch ein Kind, war der Autor 18 Jahre im stalinistischen System aus Straflagern und Bergwerken gefangen. Er trotzte der unmenschlichen sibirischen Kälte, überlebte Hunger und Zwangsarbeit. Den Rest seines Lebens trieb ihn dieses Thema um.

Kuljabin, 1984 und damit zwei Jahre nach Schalamows Tod geboren, gilt als Shootingstar des russischen Theaters. In Nowosibirsk bespielt er ein eigenes Haus, bei den Wiener Festwochen reüssierte er 2016 mit Tschechows „Drei Schwestern“ in Gebärdensprache. Wo er damals alle Russen-Klischees umschiffte, schenkt er in München Sozialrealismus aus: Hohlwangige Geschöpfe in Fellmützen graben eine Leiche aus dem Eis, um ihre Wäsche zu verkaufen, als es im Text genau darum geht. Immer da, wo er bloß illustriert, gibt der Abend seine kluge Distanz zur Realität des Leids auf, an die er doch nicht herankommen kann. Die stärkste Geschichte ist darum die letzte – „Marschverpflegung“ – , worin sich von vier Männern eines vermeintlichen „Genesungskommandos“ einer an einer Astgabel erhängt, ein zweiter willentlich eine Hand verstümmelt und der Dritte nach Hause schreibt: „Mama, mir geht es gut. Mama, ich bin nach der Saison gekleidet …“ Spätestens da ist man Schalamows spröder Prosa mit wehem Herzen erlegen – und dem Darstellerinnenquartett wie auch dem Regisseur dankbar, dass hier szenisch nichts gedoppelt wird.

Während aus dem Container keinerlei Laut dringt, regiert im Marstall das Wort. Anna Drexler hat es – und Shumona Sinhas 2011 erschienener Roman mit dem Baudelaire-Titel: „Erschlagt die Armen!“ Sinha, 1973 in Kalkutta geboren, hat an der Sorbonne studiert und für die Pariser Ausländerbehörde ­OFPRA gearbeitet. Dass sie die für eine „Lügenfabrik“ hält, weil sie Armut als Fluchtursache nicht akzeptiert, hat sie mit der Ich-Erzählerin ihres Romans gemein, die als Dolmetscherin zwischen die Fronten derer geraten ist, die ihr Leid funktionalisieren und fiktionalisieren, weil das System es von ihnen verlangt, und den „Entscheidern“, die jede Lüge erschnuppern und den Lügner erlegen. Schließlich muss sie sich selbst verantworten, weil sie einem Migranten eine Weinflasche auf den Kopf geschlagen hat.

„Ich hätte nie gedacht, dass der Weg so kurz wäre.“ Mit diesem Satz beginnt der Abend. Konzentriert, fast ein wenig verwundert schaut Anna Drexler dabei auf die Hand, die das tat, wofür sie jetzt statt im üblichen Befragungszimmer in einem „schimmeligen Raum im Polizeirevier“ sitzt. „Ich bin …, sie ist …“: Selbst die Suche nach dem richtigen Personalpronomen für sich selbst macht ihr Probleme, dieser Hypersensiblen, nicht unbedingt Sympathischen, die von ihren Landsleuten als welchen spricht, „die wie ungeliebte Quallen die Meere befallen“. Einzeln betrachtet geben einige ihrer Sätze rechten Brandstiftern Zunder. Als Ganzes ist Zino Weys und Andrea Koschwitzs kluge Verdichtung von Sinhas Text ein schonungsloses, aber auch poetisches Psychogramm von einer, die sich nirgendwo zugehörig fühlt und ihre Selbstauslöschung „bei den Männern dieser Stadt“ noch forciert: „Mit jedem Beckenstoß hebe ich den vorangegangenen Augenblick auf, hebe mich selbst auf.“

Drexler spricht, schmeckt und schreit diesen Text, bewegt sich über die metallische Bühnenschräge wie über ein Spielbrett; selbst eine Figur, die ihren Körper immer wieder neu verwinkelt und ihre Hände mal in den eigenen Achselhöhlen vergräbt und mal über den Boden huschen lässt wie über das Fell einer empfindlichen Trommel. Angestrahlt von Neonröhren, über sich ein himmlisches Meer aus Kopfhörern, aus denen das Echo der 9.517 Geschichten brummt und zwitschert, die sich die Protagonistin hat anhören müssen: „Nach Tränen schmeckende Berichte voll Bitterkeit und Gewalt, und alle einander ähnlich.“

Drexler wütet, drischt auf die Bühne ein, karikiert die „Maske der Freundlichkeit“, die die Franzosen der ewig Fremden zeigen – und ehe man sich an dieser grandios stilisierten Wut satt­sehen kann, ist der kurze Abend auch schon zu Ende.

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