: Diese verdammte hartnäckige Sehnsucht
In ihrem neuen Roman „Töchter“ schickt Lucy Fricke zwei kurz vor der Menopause stehende Frauen auf Vatersuche und gibt dem Genre der Roadnovel eine weibliche, selbstironische Note
Von Nina Apin
Todkranker Vater bittet einzige Tochter, sie zum Sterben in die Schweiz zu fahren. Schweren Herzens erfüllt sie ihm den letzten Wunsch. Und während sie in seinem alten Golf, Baujahr 1996, über die Autobahn fahren, er von Hustenkrämpfen geschüttelt, sie tränenüberströmt, werden viele Erinnerungen geteilt …
Die Handlung hätte das Zeug zum fiesen Melodram – hieße die Autorin des Romans nicht Lucy Fricke. Das Debüt der 1974 in Hamburg geborenen Autorin trug den Trinkspruchtitel „Durst ist schlimmer als Heimweh“. Entsprechend robust geht es auch in ihrem neuen, mittlerweile vierten Roman, „Töchter“, zu, der um abwesende Väter und zertrümmerte Erwartungen kreist. Und um zwei Freundinnen, die sich schon so lange kennen, dass die eine an der Stimme der anderen merkt, wann diese vor dem Zusammenbruch steht.
Martha, sonst so kontrolliert, dass sie sich selbst beim Denken Deadlines setzt, befindet sich durch den bevorstehenden Tod ihres Vaters im freien Fall. So kommt es, dass am Steuer des Wagens, der von Hannover aus Richtung Sterbehilfe rumpelt, ihre beste Freundin Betty sitzt. Und diese Frau, aufgewachsen zwischen wechselnden Vaterfiguren, gestählt an den härtesten Kneipentresen Hamburgs, wohnhaft am Berliner Touristenstrich am Schlesischen Tor, ist keine Freundin von Sentimentalitäten.
Lucy Fricke hat eine Großstadtbewohnerin knapp über vierzig entworfen, die sich eingerichtet hat in ihren Widersprüchen: schluckt Antidepressiva, versucht, dabei gute Bücher zu schreiben, finanziert sich durch Vermietung ihrer Altbauwohnung an Touristen – und demonstriert jeden Donnerstag gegen die Gentrifizierung ihres Kiezes. „Ich lebte schon so lang in diesem Viertel, ich hatte das Gefühl, dass mir ein Stück vom Kuchen zustand, dass ich im Grunde selbst der Kuchen war. Ich verkaufte meine Heimat für 80 Euro die Nacht, die meisten taten das.“
Mit dem gleichen Pragmatismus, mit dem Betty die Kotze spanischer Partytouristen aus ihrem Parkett kratzt, nimmt sie sich des Dilemmas ihrer Freundin an. Martha hat erst seit wenigen Monaten Kontakt zu ihrem Vater Kurt, der früh aus ihrem Leben verschwunden war – jetzt soll sie ihn in den Tod begleiten. Aber Martha, traumatisiert durch einen Autounfall und belastet von einer endlosen Hormonbehandlung, traut sich nicht ans Steuer.
Also lädt Betty, die eigentlich selbst gerade auf dem Weg nach Italien war, um das Grab ihres entschwundenen Kurzzeitvaters Ernesto zu suchen, den röchelnden Kurt in den Kofferraum, zündet sich eine Zigarette an … und dann beginnt das zusammengewürfelte Trio eine Reise, die nicht in einem Schweizer Hospiz endet, sondern zunächst am Lago Maggiore. Denn dort wartet Kurts Jugendliebe Francesca, die ihn all die Jahre nicht vergessen hat. Oder ist diese Frau am Ende eher so eine Art privates Sterbehilfekommando? Wo sie aber schon mal dabei sind, setzen sich die Freundinnen gleich noch auf die Spur von Bettys Vaterfigur, dem mysteriösen Posaunisten, der eines Tages nach Bellegra im Latium verschwand. Nach nicht wenigen absurden Wendungen führt die Vatersuche die Töchter auf eine griechische Insel.
Lucy Fricke: „Töchter“. Rowohlt, Reinbek 2018, 240 Seiten, 20 Euro
Motoröl und Verzweiflung, im Autogrill gekippte Schnäpse, in Motelbetten gemurmelte Lebensweisheiten – gekonnt spielt Lucy Fricke mit dem Genre des Roadmovie und gibt ihm ihre eigene, weibliche und selbstironische Note:
„ ‚Was soll das eigentlich werden?‘, fragte ich. ‚Thelma und Louise?‘ “
‚Die waren jung, sexy und unterdrückt‘, sagte Martha. ‚Guck uns an, wir sind nicht mal unterdrückt.‘
‚Tschick?‘, probierte ich weiter.
‚Das waren Jungs. Wir sind Frauen kurz vor den Wechseljahren. Ich hoffe, das willst du nicht vergleichen.‘ “
Die Freundschaft von Martha, die nur auf dem linken Auge weint und die singt, wenn sie Angst hat, und Betty, die auf Antidepressiva und Alkohol durchs Leben schwankt, kommt ohne den Kitsch von Frauenromanen aus und ist doch getragen von Gefühlen, die man manchmal fast überliest. Denn vor allem macht es großes Vergnügen beim Lesen, den beiden durch Italien zu folgen – ein Italien voll von Jogginghosen, Landflucht und Taubenschiss, dem jegliche deutsche Dolce-Vita-Sehnsucht von den Schindeldächern gefegt wurde.
Und quasi nebenher ist „Töchter“ ein Roman, der ebenso leicht wie schonungslos vom Frausein im mittleren Lebensalter erzählt: vom Ringen mit der eigenen Herkunft, die sich weder im Club noch auf dem Standesamt abschütteln lässt. Von der hartnäckigen Sehnsucht nach Familie. Von der Frage, was noch bleibt vom Rest des Lebens, so kurz vor der Menopause.
Schade ist bloß, dass sich Lucy Fricke an manchen Stellen aufs Komische zurückzieht, wo es tiefer gehen könnte. Der Autounfall, bei dem ein enger Freund der Protagonistinnen starb, läuft als düsterer Unterton mit, wird aber nicht weiter ausgeführt. Und die Gewalt, vermutlich sexueller Art, die Betty durch einen ihrer Kurzzeitväter erfahren hat, bekommt nicht mehr Raum als eine flüchtige Andeutung. Als traue die Autorin ihrer eigenen Gedankentiefe nicht über den Weg. Die hat sie durchaus, Bettys Verzweiflungsmonolog über das Schreiben gehört zu den stärksten Szenen des Buchs.
Dass „Töchter“ dann am Ende doch noch eine Rührszene hervorbringt, die eines griechischen (Spielfilm-)Dramas würdig ist, war dann wahrscheinlich gar keine Absicht dieser Autorin, der ihre eigene Sensibilität ein bisschen peinlich zu sein scheint. Oder doch?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen