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Plötzlich im Finale

Die deutsche Eishockeynationalmannschaft schlägt überraschend Rekordolympiasieger Kanada. Am Sonntagmorgen geht es gegen Russland um die Goldmedaille

Von Johannes Kopp

Allein dieser Tipp wäre schon Gold wert gewesen. Deutschland gegen die Athleten aus Russland (OAR) im olympischen Eishockeyfinale – mit dieser Paarung hatten selbst die extrovertiertesten Experten nicht gerechnet. Am Sonntag nun wird es in den frühen Morgenstunden (5.10 Uhr) europäischer Zeit zum Abschluss der Winterspiele in Pyeongchang zu diesem wundersamen Endspiel kommen. Das deutsche Eishockeyteam spielt um die Goldmedaille.

Der historische 4:3-Halbfinalsieg der Deutschen gegen Kanada (1:0, 3:1, 0:2) macht es möglich. Kaum war die Schlusssirene erklungen, da entledigten sich die deutschen Spieler ihrer Schläger und Helme, die wild übers Eis flogen. Das Staunen über die eigene Leistung war groß. Danny aus den Birken sagte: „Uns ist alles noch nicht so klar hier. Wir haben ne Medaille. Damit haben wir uns ’nen Traum erfüllt. Wir haben alles geblockt, alles kämpferisch gelöst, Pucks gegessen und vorne die Tore gemacht.“

Eigentlich hatte man vor der Partie gedacht, dass aus deutscher Sicht das Maximum in diesem Turnier bereits erreicht sei. Nach dem ebenfalls schon sensationellen Erfolg gegen Schweden stand das Team von Trainer Marco Sturm erstmals nach den Winterspielen von Innsbruck 1976 in einem Halbfinale.

Besonders erstaunlich war die lange Zeit anhaltende Souveränität des Außenseiters im Kwandong-Hockey-Zentrum von Gangneung. Nach dem deutschen Führungstreffer von Brooks Macek in der 15. Minute verlegte man sich nicht aufs Verteidigen, sondern baute den überraschenden Vorsprung Stück für Stück weiter aus. Kühl und konsequent wurden die Torgelegenheiten genutzt. Am Ende des zweiten Drittels führte das Team gegen den Olympiasieger der letzten Winterspiele von Sotschi mit 4:1. Kanadas Torhüter ­Kevin Poulin wusste nicht, wie im geschah. Der Torhüter aus der osteuropäischen KHL hatte zuvor noch kein Tor im Turnier kassiert. Allein dieser Zwischenstand nach zwei Dritteln kam einer Demütigung für das Eishockey-Mutterland gleich.

Ganz so einfach wollten es die Kanadier den Deutschen aber dann doch nicht machen. Im letzten Drittel verstärkten sie ihre Offensivbemühungen erfolgreich. Mit zwei Treffern (43. und 59. Minute) sorgten sie wieder für große Spannung, auch weil Dominik Kahun bei einem Penalty die günstige Gelegenheit vergab, die Favoriten wieder zu demoralisieren.

Mit großer Risikofreude versuchte dann Kanadas Coach Willie Desjardins die Blamage abzuwenden. Gut zwei Minuten vor Schluss verzichtete er zugunsten eines weiteren Feldspielers auf den Torwart, um ein richtiges Powerplay aufzuziehen.

Eine Minute und sieben Sekunden vor der Schlusssirene versuchte wiederum sein deutscher Kollege Marco Sturm, mit einer Auszeit noch einmal seine defensiven Reihen zu ordnen und den Rhythmus des Gegners zu stören. Mit Erfolg. Die Kanadier brachten den Puck nicht mehr im gegnerischen Tor unter.

„Kanada ist besser bestückt als wir, aber wir haben das größere Herz“, hatte Sturm vor dem Spiel gesagt und eindrucksvoll recht behalten. Wegen des Olympia-­Boykotts der NHL fehlten dem Favoriten viele Stars. Aber auch Marco Sturm musste auf einige deutsche NHL-Legionäre verzichten. Dem nur aus DEL-Spielern bestehenden Kader hatte vor diesen Winterspielen ­keiner einen solchen Erfolg zugetraut.

Auch die Deutschen kamen aus dem Staunen kaum heraus. David Wolf sprach von einer „unglaublichen Leistung des gesamten Teams“. Und: „Der Erfolg ist verdient, wir standen zu Recht im Halbfinale und stehen jetzt zu Recht im Finale.“

Nach dieser Partie werden wohl auch die Buchmacher die Quoten auf einen deutschen Olympiasieg deutlich herabsetzen. Das Team von Marco Sturm ist im besten Sinne unberechenbar geworden.

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