Das Abenteuer des Überlebens in Stalins Taiga

Mit einer Anmutung von Volksmärchen erzählt Gusel Jachina in „Suleika öffnet die Augen“ von der Deportation sogenannter Kulaken

Gusel Jachina:„Suleika öffnet die Augen“. Roman. Aus dem Rus­sischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, Berlin 2017, 541 Seiten, 22,95 Euro

Von Katharina Granzin

E-Books haben viele Vorteile. Dass sie ein physisch absolut unauffälliges Dasein führen, gehört dazu und ist großartig, wenn man im Bücherregal ohnehin Platzprobleme hat. Aber was keine dingliche Präsenz hat, wird eben auch leicht übersehen.

So treten manche auf dem E-Reader gelagerten Schätze erst dann ans Licht, wenn auf Reisen mobile Lektüre gefragt ist. Auf dem Reader der Rezensentin ist zum Beispiel einer der spannendsten Romane des letztjährigen Frühjahrsprogramms erst jetzt daraus aufgetaucht: „Suleika öffnet die Augen“, der Debütroman der tatarischstämmigen, russischsprachigen Autorin Gusel Jachina, geboren 1977.

Das Attribut „spannend“ kann in mehrfacher Bedeutung vergeben werden; denn Jachina erzählt nicht nur ungemein fesselnd, sondern ihr Roman ist auch insofern besonders, als er die sogenannte Lagerliteratur um ein in diesem Kontext unerwartetes Subgenre bereichert.

Dieses Buch, das die hochdramatische Geschichte einer jungen Tatarin erzählt, die als angebliche „Kulakin“ in den Dreißigerjahren nach Sibirien verbannt wird, ist im Grunde ein Abenteuerroman mit historischem Hintergrund: Suleika, die mit fünfzehn Jahren mit einem dreißig Jahre älteren Mann verheiratet worden ist, kennt das Leben nicht anders als von seinen harten Seiten. Vier Säuglinge sind ihr gestorben; wie eine Arbeitssklavin lebt sie mit Schwiegermutter und Ehemann auf einem kleinen Bauernhof.

Als die Kommunisten einen bewaffneten Trupp schicken, der die „Kulaken“ aussiedeln soll, wird Suleikas Mann erschossen, und ausgerechnet sein Mörder, ein junger russischer Offizier, wird zum Begleiter jenes Transports ernannt, mit dem Suleika und andere Vertriebene nach Sibirien deportiert werden.

Als die Reste von Suleikas Gruppe in Sibirien ankommen, setzt man sie in der Wildnis aus

Die unmenschlichen Bedingungen, unter denen diese Transporte stattfanden, spart der Roman nicht aus, auch nicht die Menschenleben, die sie kosteten. Als die zählebigen Überreste von Suleikas Gruppe in Sibirien ankommen, setzt man sie in der Wildnis aus, mit nur wenigen primitiven Werkzeugen zum Überleben ausgestattet.

Suleika stirbt fast bei der Geburt ihres Sohns. Wie in einem echten Abenteuerroman gelingt es der Gruppe jedoch, eine Schwierigkeit nach der anderen zu überwinden. Die Deportierten trotzen der Taiga nicht nur ihr Überleben ab, sondern gründen nach und nach eine richtige Siedlung.

Zu dieser Geschichte findet Gusel Jachina einen besonderen, klaren Erzählton, der von einer sehr bewusst eingesetzten Naivität grundiert wird, fein abgemischt mit leiser Ironie. Eine Anmutung von Volksmärchen fliegt die Leserin manchmal an. Wer wollte – und bestimmt gibt es welche, die das wollen –, könnte all das gegen die Autorin verwenden und ihr unzulässige Romantisierung der stalinistischen Verbrechen vorwerfen. Man sollte allerdings wissen, dass Suleikas dramatisches Schicksal in Wirklichkeit die Geschichte von Gusel Jachinas eigener Großmutter ist, die 1930 nach Ostsibirien deportiert wurde.