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Betreuung mit Huhn

Preisgekröntes Projekt: Für „Bauernhöfe als Orte für Menschen mit Demenz“ kooperiert Schleswig-Holsteins Alzheimergesellschaft mit der Landwirtschaftskammer

„Wir wünschen uns, dass man bald auf dieLandkarte schaut und überall solche Höfe sieht“

Anneke Wilken, Alzheimer- gesellschaft Schleswig-Holstein

Von Esther Geißlinger

Ella schiebt ihren großen Kopf über die Bohlenwand des Kobens und rümpft den Rüssel. Sehr zur Freude der älteren Damen und Herren, die im Stall bei der Sau zu Besuch sind. Und es gibt noch mehr zu sehen: Hühner in einem Freigehege, ein Schimmel auf einer Weide, ein Kätzchen, das sich streicheln lässt. „Schön, ich komme gern mal wieder!“, sagt eine der Besucherinnen erfreut. Das hört Hausherrin Brunhild Mordhorst gern.

Seit 2006 lädt der Hof Petersburg am Rand von Kiel – gegründet von einem Schleswiger Herzog, der in die russische Zarenfamilie eingeheiratet hatte – regelmäßig Demenzkranke ein zu einigen Stunden zwischen Ställen, Tieren und Kaffeetafel. Petersburg war der bundesweit erste Bauernhof mit diesem Angebot, inzwischen beteiligen sich weitere vier Betriebe, und noch mehr durchlaufen gerade die Zertifizierung. „Wir wünschen uns, dass man bald auf die Schleswig-Holstein-Karte schaut und überall solche Höfe sieht“, sagt Anneke Wilken von der Alzheimergesellschaft Schleswig-Holstein, die für das Projekt „Bauernhöfe als Orte für Menschen mit Demenz“ mit der Landwirtschaftskammer kooperiert.

Der Ansatz ist inzwischen mehrfach ausgezeichnet worden, die Idee stammt aus Österreich: „Green Care“ heißt das Projekt dort, also in etwa „Grüne Pflege“. Schnell fiel auf, dass Menschen, die an einer Vergessenskrankheit leiden, vom Kontakt mit Tieren und der Atmosphäre profitieren. „Auf einem Hof war eine Frau mit Demenz zu Besuch, der jemand ein Huhn auf den Schoss setzte. Und diese Frau, die seit einem halben Jahr praktisch verstummt war, begann zu sprechen.“

Die Alzheimer-Gesellschaft verweist auf Studien, denen zufolge der Kontakt zu Tieren so beruhigend wirkt, dass der Blutdruck sinkt, der Atem ruhiger wird und sogar weniger Antidepressiva verabreicht werden müssen. Gerade für an Demenz Erkrankte sei es wichtig, dass Tiere sie genauso behandeln wie jeden anderen Menschen – und auf Stimmungen reagieren.

Das Projekt lief durchaus schleppend an. Am Anfang stand die Aufgabe, Betriebe zu finden, die es sich zutrauen, alte Menschen zu betreuen, die demenziell, vielleicht auch körperlich eingeschränkt sind. So wie auf dem Hof Petersburg sind es häufig die Bäuerinnen, denen diese Aufgabe zufällt. Im Februar 2015 fand eine erste Fortbildung zum Thema statt. Ein gutes Jahr dauerte es danach, bis das erste Zertifikat erteilt war. Landesweit haben bisher 24 Höfe eine Beratung erhalten. Neben Schulungen zum Umgang mit den Kranken geht es auch um die Sicherheit: Besteht Stolpergefahr auf unebenem Pflaster? Kann ein Pferd ausschlagen oder ein Trecker den Weg kreuzen? „Barrierearm, nicht barrierefrei“ müssten die Höfe sein, sagt Wilken: „Aber dafür erhalten die Höfe Beratung.“

Für Sigrid Clausen, Leiterin einer Demenz-Wohngemeinschaft in Flintbek, die mit ihrer Gruppe den ersten Besuch auf dem Hof Petersburg machte, ist das dort Anzutreffende „normales Lebensrisiko“. Wichtig sei, dass Kranke „mal ganz rauskommen und etwas anderes erleben“.

Das bestätigt Wilken: „Auch für pflegende Verwandte kann es ein wunderbares Erlebnis sein, mal gemeinsam mit dem Demenzkranken etwas Besonderes zu erleben.“ Das größte Problem sei, dass Verwandte oft gar nicht von dem Angebot wissen: „Die sind so komplett eingedeckt, dass es ihnen schwer fällt, etwas Neues für sich zu entdecken.“ Gefördert wurde das Projekt anfangs über das bundesweite Modellprogramm „Lokale Allianzen für Menschen mit Demenz“. Inzwischen kommt Geld aus verschiedenen Töpfen: Die Ehrenamtsschulung für die LandwirtInnen etwa zahlt die Krankenkasse, und die Landwirtschaftskammer hat eine eigene Förderung beantragt.

Und das Projekt wird sogar noch ausgeweitet: Im vergangenen Jahr kam eine Schulung für BetreiberInnen von Bauernhofcafés hinzu: Unter dem Motto „Torte geht immer“ geht es darum, entspannt mit Menschen mit Demenz umzugehen, auch wenn mal Sahne in die Tasse gegossen wird oder Kuchen auf dem Boden landet. Für die Alzheimergesellschaft ist dabei wichtig, Familien Mut zu machen, mit dem Kranken in die Öffentlichkeit oder ein Lokal zu gehen. In Zukunft könnten Höfe auch Wohnungen für Demenzkranke anbieten oder Urlaub für Pflegende und Kranke. Die Landwirtschaftskammer hofft, dass sich die Demenzbetreuung mittelfristig zu einem echten Standbein für Betriebe entwickelt: „Auch der Urlaub auf dem Bauernhof“, sagt Schiller, „hat klein angefangen.“

www.demenz-sh.de/hilfen-vor-ort/bauernhoefe-als-orte-fuer-menschen-mit-demenzwww.hof-petersburg.de

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