: Alles ist im Wandel – nur nicht das Wahlverhalten
In der Region Mährisch-Schlesien verbucht Tschechiens 73-jähriger Präsident Miloš Zeman traditionell die meisten Stimmen. Was macht die Region aus, die einst von Kohlegruben und Stahlproduktion geprägt war? Ein Besuch in der Stadt Ostrava
Aus Ostrava Alexandra Mostýn
Von seinem Schreibtischstuhl kann Vladimír Dzik direkt auf die rauen Hügel der Beskiden blicken. Am Rande dieser Gebirgskette, die sich südlich der mährisch-schlesischen Industriemetropole Ostrava (Ostrau) bis hinein in die Slowakei zieht, lässt Dzik Maschinenbauteile für die ganze Welt bauen. „Die Menschen hier sind es gewohnt, hart und körperlich zu arbeiten. Und sie sind sehr gut qualifiziert“, sagt der sportliche Endfünfziger und lehnt sich in seinen Stuhl zurück. Und doch hat der Fachkräftemangel in Tschechien auch diese Region erreicht. „Ich könnte jetzt sofort 30 weitere Leute einstellen. Aber qualifizierte Arbeitskräfte sind ja leider Mangelware“, sagt Dzik.
Die Stadt Ostrava mit ihren knapp 300.000 Einwohnern ist im Wandel. Die Industrie, mit der die Region Mährisch-Schlesien einst wirtschaftliche Bedeutung erlangte, gibt es nicht mehr. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks verschwand der „sozialistische Weltmarkt“ des Ostblock-Wirtschaftsbündnisses Comecon, der der größte Abnehmer für Kohle und Stahl aus Ostrava war. Entsprechend ist der Großraum Ostrava zwar für seine hohe Arbeitslosenzahlen berüchtigt – allerdings ist die tschechische Wirtschaft gerade so gut aufgestellt, dass die Arbeitslosenquote momentan bei nur 5,6 Prozent liegt.
Die Veränderung ist sichtbar: Über ein Jahrhundert lang war die Stadt Ostrava geprägt von Kohle und Stahl. Mitten im Zentrum prägten einst nicht nur die Fördertürme der Schächte das Stadtbild, sondern auch die anliegende Kokerei Karolina. Heute steht an deren Stelle ein modernes neues Stadtviertel mit einem schicken Einkaufszentrum.
Wo früher die brennenden Halden der Kohlegruben die Stadt wie einen Vorort der Hölle anmuten ließen, beißender Schwefelgestank das Atmen fast unmöglich und allgegenwärtiger Smog die Kinder krank machte, ist heute ein Ort zum Flanieren geworden. Die Wohnlage gilt als eine der attraktivsten der Stadt. In der Ostravice, dem Fluss, der Ostrava in Mähren und Schlesien teilt und der sich einst zähflüssig, schwarz und stinkend durch die Stadt zog, kann man heutzutage getrost Forellen fangen.
Und doch ist bei allem Umbruch eines konstant geblieben: das Wahlverhalten. Das haben gerade erst die tschechischen Präsidentschaftswahlen gezeigt. Schon im ersten Wahlgang Mitte Januar konnte Zeman hier knapp 50 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. In der Stichwahl am Samstag ging er souveräner als irgendwo sonst im Land als Sieger hervor: Im Wahlbezirk Ostrava-Stadt brachte es der umstrittene Präsident auf einen Stimmenanteil von 62 Prozent, im gesamten mährisch-schlesischen Kreis sogar auf knapp 63 Prozent.
„Hier in Mährisch-Schlesien besteht die Bevölkerung hauptsächlich aus Arbeitern, und die wählen eben Zeman“, sagt Ladislav Vrchovský. Mit seinen weißen Locken, die ihm bis auf die Schultern fallen, wirkt der 70-Jährige wie ein klassischer Künstlertyp. Doch er hat selbst zwanzig Jahre in den Kohleminen von Ostrava gearbeitet – unfreiwillig.
Zweite Amtszeit Tschechiens russlandfreundlicher Präsident Miloš Zeman hat sich in der Präsidentschafts-Stichwahl am Samstag durchgesetzt. Laut dem vorläufigen Endergebnis kam Zeman auf 51,4 Prozent der Stimmen. Sein proeuropäischen Herausforderer Jiří Drahoš holte 48,6 Prozent.
Die Wähler Die Beteiligung war mit 66,6 Prozent der knapp 8,4 Millionen Stimmberechtigten höher als bei der ersten direkten Präsidentenwahl vor fünf Jahren. Politologen zufolge ist die Gesellschaft polarisiert: Prag und sein Speckgürtel waren Hochburgen des liberalen Herausforderers, auf dem Land wurde eher Zeman gewählt. Menschen ohne Abitur haben eher Zeman gewählt, Wähler mit höheren Abschlüssen Drahoš. (dpa)
„Ich wollte immer Theaterwissenschaften studieren. Aber nachdem ich 1968 den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei öffentlich eine Sauerei genannt hatte, zwang mich das kommunistische Regime, Kohle zu schaufeln, indem es mir alle anderen Möglichkeiten verwehrte“, erzählt er. Trotzdem trifft sich Vrchovský bis heute noch gerne mit seinen alten Kohlekumpels.
„Es ist nicht so, dass die Menschen hier kein intellektuelles Potenzial hätten“, sagt er. „Nur haben sie hier von vornherein andere Voraussetzungen, denn hier zählt vor allem körperliche Arbeit.“
Zeman weiß die Mentalität der Menschen gut für sich zu nutzen. Die Region hat er in seiner ersten Amtszeit insgesamt fünfmal besucht und dabei immer wieder beteuert, dass ihm persönlich die Menschen dort am nächsten sind. „Die Menschen hier glauben, Zeman sei an ihnen und ihrem Schicksal interessiert“, sagt Vrchovský und schüttelt die weißen Locken.
Der Präsident hat auch an den Details seiner Selbstinszenierung gefeilt: Zeman hat sogar sein Leibgetränk, den Kräuterschnaps Becherovka, schon vor den Wahlen 2013 strategisch klug durch Slivovice ersetzt, das Leibgetränk der mährisch-schlesischen Region. Dem Image als Slivovice-schwingender Volkspräsident für die „unteren Zehntausend“ kann die Realität dabei nichts anhaben – etwa die Tatsache, dass Zeman in den 73 Jahren seines Lebens nie mit den Händen gearbeitet hat.
Nicht einmal die Nachricht, dass sich Zeman von der Vereinigung privater Gerichtsvollzieher sponsern ließ, hat ihm geschadet. Dabei ist knapp die Hälfte der 1,2 Millionen Bewohner der Region so verschuldet, dass ihr Zwangsvollstreckung droht. Viele der Betroffenen sind Rentner, die mit ihrer Durchschnittsrente von 440 Euro nicht über die Runden kommen.
„Wir haben nach der Wende versucht, den Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie, so gut es ging, zu lenken“, erzählt Vrchovský, den die Samtene Revolution von der Kohlegrube zum Bürgerforum und dann für zwei Jahre ins Parlament gebracht hat. „Als der Bergbau Anfang der 1990er zugrunde ging, verloren innerhalb von drei Jahren etwa 80.000 Menschen ihre Arbeit“, erinnert er sich. Er musste damals dafür sorgen, dass es nach dem Aus für die traditionelle Industrie nicht zu sozialen Unruhen kam. „Wir haben Frührenten und Requalifizierungsmaßnahmen durchgesetzt. Und die Kumpels dabei unterstützt, neue Jobs zu finden.“
Ladislav Vrchovský, Ex-Politiker
Als Vladimír Dzik Mitte der 1990er Jahre an den Fuß der Beskiden zog, war der Tagebau in Ostrava wie im gesamten mährisch-schlesischen Becken fast schon Geschichte. Der studierte Musiklehrer und Sohn eines Orgelbauers aus dem schlesischen Städtchen Krnov (Jägerndorf) nördlich von Ostrava war 1984 mit seiner Frau und zwei Kindern nach Deutschland gezogen.
In Frankfurt am Main baute er sich eine völlig neue Karriere als Messekaufmann auf und gründete bald seine eigene Firma. Als sein Vater in Rente ging, aber nicht in den Ruhestand wollte, eröffneten sie zusammen eine kleine Fabrik mit Blick auf die Berge. Inzwischen beschäftigt er dort bis zu 250 Menschen. Dzik ist überzeugt: „Der Großraum Ostrava hat viel Potenzial.“
Immer mehr Investoren siedeln sich hier an. Allein aus Deutschland haben sich rund 50 Unternehmen in der Region niedergelassen, deren Spektrum von Maschinenbau über Medizintechnik bis zu Speditionen reicht. Was Vladimír Dzik noch fehlt, ist die Entwicklung eines heimischen Mittelstands. „So ein kleiner Bäcker oder Metzger im Dorf wäre schon was“, schwärmt er.
„Was Ostrava braucht, sind Institutionen“, meint Jan Rafaj. Der 40-Jährige gehört zu den bekanntesten Spitzenmanagern der Region. Als Vizepräsident des tschechischen Industrieverbands pendelt Rafaj regelmäßig ins 400 Kilometer entfernte Prag, das dank einer gut ausgebauten Bahnverbindung nur noch etwas über drei Stunden entfernt liegt. „In Prag sitzt fast alles, in Brünn die Justiz“, sagt Rafaj. „Wirtschaftliche Institutionen könnte man aber getrost hier ansiedeln, das wäre ein gutes Signal für Ostrava und würde seine weitere Entwicklung nur fördern.“
Der Manager, der heute den größten und nach einer verpatzten Privatisierung höchst umstrittenen Wohnungsfonds der Region mit immerhin 43.000 Wohnungen leitet, sieht die Zukunft Ostravas selbstbewusst. „Wir haben hier nicht nur als strategisch günstige Wirtschaftsregion viel zu bieten, sondern auch kulturell. Unsere Oper gehört zu den Spitzenhäusern“, sagt Rafaj stolz.
Selbst bevorzugt er eine etwas andere Musikrichtung; die Band, mit der er in seiner Freizeit durchs Land tingelt, spielt Rock. „Mit Colours of Ostrava haben wir zum Beispiel das beste Rockfestival des Landes“, schwärmt Rafaj ganz unbescheiden. Auch die Kulturszene hat sich mit dem Wandel des Reviers verändert. Jeden Sommer strömen jetzt Tausende Musikfans auf das Areal der Vítkovice-Stahlfabrik mitten in der Stadt, das sich inzwischen als Kulturdenkmal und Festivalarena neu definiert hat.
Vor drei Jahren wäre Ostrava fast Europäische Kulturhauptstadt geworden. Nur knapp unterlag die Stadt dem westböhmischen Pilsen. „Na ja“, sagt Jan Rafaj und verdreht die Augen. Dann fängt er an zu lachen: „Wir haben das geplante Programm damals auch ohne den Titel durchgezogen und hatten kulturell ein ganz tolles Jahr.“ Manchmal geht es eben auch ohne Titel.
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