Die Jacke, der wilde Widersacher

Apokalypsen und Verwirrspiele: In seiner zweiten Ausgabe lockt das internationale Tanzfestival „Purple“ ein junges Publikum mit der Vielfalt des zeitgenössischen Tanzes. Das Programm ist so anspruchsvoll wie sensibel

Die Welt steht kopf: „Pokon“ von De Dansers thematisiert das Wachsen Foto: Jörg Metzner

Von Annett Jaensch

In wahnwitzigen Winkeln neigen sich vier Frauen und drei Männer in Richtung Boden. Wie Magnetnadeln, die einer unsichtbaren Kraft gehorchen müssen. Mal geben sie einander sanfte Impulse, mal stoßen sie sich rüde ab. In ihren scheinbar bleischwer fixierten Boots kommen sie nie auch nur einen Zentimeter von der Stelle. Mühelos lässt sich dieses Miteinander als Parabel für das Ringen nach Freiheit lesen, effektvoll grundiert durch die live gespielten Klänge der Clarinet Factory.

Meister der minimalistischen Körperpoetik sind die Mitglieder der tschechischen Company VerTeDance, die das wuchtige Thema in luftige Bilder verwandeln. Dass ihr mehrfach mit Theaterpreisen ausgezeichnetes Stück „Correction“ die diesjährige Ausgabe von „Purple“ in der Altersrubrik 13+ eröffnet, verrät viel über die Programmatik des Festivals. Extrem facettenreich zeigen sich die aktuellen Strömungen des zeitgenössischen Tanzes. „Wir gehen davon aus, dass viele das allererste Mal eine Tanzvorstellung besuchen. Der Neugier wollen wir mit Vielfalt begegnen“, sagt die künstlerische Leiterin Canan Erek über ihre junge Zielgruppe.

Körperbetont statt kopflastig

Für den Tanz begeistern, Sehgewohnheiten verändern: Wer die in Istanbul geborene und seit Langem in Berlin lebende Tänzerin und Choreografin trifft, merkt schnell, dass die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen für sie eine Herzensangelegenheit ist. Canan Erek, ihr Team und die Kooperationspartner Tanzkomplizen sowie Theater Strahl wollen mit „Purple“ vor allem eine Lücke füllen. Anders als in Holland oder Skandinavien gibt es in Deutschland nur wenige regelmäßige Angebote, die sich professionell inszeniertem Tanz für Kids und Teens widmen.

Die Bilanz der ersten Ausgabe konnte sich sehen lassen: Rund 1.450 Besucher*innen interessierten sich für das Tanzpaket. In diesem Jahr warten sieben Produktionen aus den Niederlanden, aus Schweden, Spanien, Tschechien und Deutschland darauf, in den Uferstudios, im Podewil und im Theater Strahl unter die Lupe genommen zu werden.

Traditionell gehören die Vormittage den Schulklassen. Und so rutschen am Eröffnungsdienstag rund 30 Berliner Zweit- und Viertklässler erwartungsfroh auf ihren Sitzen hin und her. Als die Company der schwedischen Choreografin Claire Parsons dann beginnt, ihr zartes Objekttheater „And Then“ auf die Bühne zu tupfen, weicht die Zappelei staunender Konzentration.

Das Performerquartett zeigt, dass sich trefflich auf einem Besenstiel galoppieren lässt, dass eine Jacke zum wilden Widersacher werden kann oder dass Bälle ein wunderliches Eigenleben führen können. In dem suggestiven Verwirrspiel stolpern die vier ständig über ihre eigenen Erzählfäden. Die losen Enden halten sie den Kindern entgegen, auf dass sich Interaktion entspinne. In der anschließenden Fragerunde sprudelt es nur so aus den Kleinen heraus: „Seid ihr eine Familie?“, „Du siehst aus wie Frankenstein“ – Achtung, Lerneffekt: Theaterschminke kann beängstigend dunkle Schatten machen – und: „Habt ihr lange geübt?“

Kinder und Jugendliche müssen thematisch nicht in Watte gepackt werden. Auch das ist eine Botschaft

Dass die jungen Theatergänger*innen mit ihren Eindrücken nicht alleingelassen werden, dafür sorgt das Workshopprogramm. Jede Vorstellung wird von solch einem Angebot flankiert. Nicht kopflastig, sondern körperbetont heranzugehen ist die Devise. „Das Gesehene soll als Erlebnis begeistern, aber auch einen Nachhall erzeugen“, betont Erek.

Auch Lehrer*innen sind eingeladen, sich die Welt des Tanzes als reizvolle Zusatzkomponente zu ihrem Unterricht zu erschließen. Wie etwa Esther Boppel. Die Theaterpädagogin und Lehrerin für Deutsch an der Herbert-Hoover-Schule im Wedding war bei „Tanz sehen und erleben“ mit Nadja Raszewski dabei. Sie erzählt am Rande einer Vorstellung, was sie aus den drei Stunden rund um bewegungsbasiertes Lernen mitgenommen hat: wie man dem kreativen Moment näherkomme und dass auch einfache Dinge eine starke Wirkung erzeugen können.

Eine starke Botschaft ist auch der Festivalname. „Purple“ hat nichts damit zu tun, dass Violett zufällig auch zur Farbe des Jahres 2018 ausgerufen wurde. „Wir wollen Jungen und Mädchen gleichermaßen ansprechen“, so Erek. Dass sich hier die Klischeefarben Blau und Pink mischen, sehe sie als Kommentar mit Augenzwinkern. Trägt man eine gender­affine Brille auf der Nase, offenbart der Festivalkalender dann auch ein Highlight: „Männer tanzen“. Die Tänzerchoreografen Martin Nachbar und Felix Marchand bürsten in diesem humorvollen Duett anhand ihrer eigenen Vita die landläufige Vorstellung, dass Tanz etwas typisch Weibliches sei, gegen den Strich.

Hinein in den Problemkosmos

Kinder und Jugendliche müssen thematisch nicht in Watte gepackt werden. Auch das ist eine Botschaft des Programms. „The Basement – don’t touch me“, eine Gemeinschaftsproduktion des Theaters Strahl mit De Dansers aus Utrecht, stößt direkt hinein in den Problemkosmos ­Pubertät.

Minimalistische Körperpoetik: „Correction“ von VerTeDance Foto: Vojtech Brtnicky

Vier Tänzer*innen, unterstützt von zwei Musikern der Band La Corneille, verausgaben sich in einem aufreibenden Spiel zwischen Nähe und Distanz. Elemente des zeitgenössischen Tanzes blitzen genauso auf wie Capoeira und Akro­batik, wenn die jungen Sinnsuchenden in dieser rau-energetischen Choreografie von Wies Merkx aufeinanderknallen.

Die aus Barcelona angereiste Company Iron Skulls wiederum hat mit dem Stück „Sinestesia“ einen Ausflug in die Welt des Breakdance – oder treffender: des B-Boy­ing – im Gepäck. Mit Gasmasken vorm Gesicht tauchen die Tänzer im Pulk in eine postapokalyptische Atmosphäre ab. Eine Einladung, sich einmal aus der eigenen Komfortzone herauszudenken.

Die 17 Vorstellungen an sechs Tagen versprechen viele Kontraste. Canan Erek und ihr Team setzen dabei ganz auf die Theatermagie des unmittelbar Erlebten als Gegengewicht zu den digitalen Welten, in denen Kinder und Jugendliche heute für gewöhnlich stecken. „Einen Raum konzentrierter Gemeinschaftlichkeit schaffen“, so bringt Canan Erek das Konzept auf den Punkt.

Zum Festivalausklang machen zwei Poesieoffensiven den Uferstudios ihre Aufwartung. Während „Chalk about“ der Performing Group aus Köln mit leisen Tönen die Unterschiedlichkeit der Menschen feiert, dreht das familientaugliche Stück „Pokon“ von De Dansers in Sachen Spiellust und Situationskomik voll auf. So viel steht fest: „Purple“ verspricht Kopf und Körper in Schwingung zu versetzen.

23.–28. Januar, Uferstudios, Theater Strahl und Tanz Spielzeit Podewil