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Hoffnung der Opposition tritt ab

Türkei: Demirtaş, inhaftierter Co-Chef der kurdisch-linken Partei der Völker, kandidiert nicht mehr

Demirtaş vermochte nicht nur Kurden zu mobilisieren, sondern auch Linke und Liberale

Von Wolf Wittenfeld, Athen

Selahattin Demirtaş, der Mann, der die Fantasie der türkischen Wähler – neben Präsident Recep Tayyip Erdoğan – am meisten beschäftigt hat, verlässt die politische Bühne. Der Co-Parteivorsitzende der Demokratischen Partei der Völker HDP hat vor wenigen Tagen angekündigt, dass er auf dem bevorstehenden Parteitag Anfang Februar nicht wieder kandidieren wird.

Der französischen Nachrichtenagentur AFP sagte er dazu in einem schriftlichen Interview, er strebe keine weitere politische Karriere mehr an. „Mein einziges Ziel ist es, weiter für Frieden, Demokratie und Menschenrechte zu kämpfen.“

Die Staatsanwaltschaftfordert 142 Jahre Haft

Der vorläufige Verzicht auf alle politischen Ämter ist nicht ganz freiwillig. Demirtaş sitzt seit dem 4. November 2016 als politischer Gefangener im Gefängnis. Und es besteht wenig Hoffnung, dass er das Gefängnis in absehbarer Zeit wieder verlassen kann.

Die Staatsanwaltschaft klagt ihn in über 90 Fällen wegen Terrorpropaganda oder als Leiter einer Terrororganisation an. Die Vorwürfe beziehen sich ausschließlich auf seine politische Arbeit und seine Reden im Parlament oder während des letzten Wahlkampfes. Allein im Hauptverfahren gegen ihn vor einem Gericht in Ankara fordert die Staatsanwaltschaft 142 Jahre Haft für Demirtaş.

Kein Wunder, dass seine Anhänger in den ganzen Verfahren nichts anderes sehen als den Versuch Erdoğans, seinen wichtigsten Konkurrenten auszuschalten. Demirtaş gibt sich zwar ungebrochen, doch hat er wenig Hoffnung, durch ein faires Verfahren aus dem Gefängnis zu kommen.

Gegenüber AFP sagte er: „Ich werde gewiss eines Tages freigelassen, doch wird das nicht dank einer Justizentscheidung, sondern infolge politischer Entwicklungen sein.“

Für die HDP und die gesamte linke Bewegung ist der Rückzug von Selahattin Demirtaş ein großer Verlust, selbst wenn er aus dem Gefängnis heraus zur praktischen Parteiarbeit nichts mehr beitragen konnte.

Der 44-Jährige Jurist und Menschenrechtsanwalt war und ist ein Hoffnungsträger, der viele Menschen bewegt. Das zeigte sich zuletzt wieder am Freitag vergangener Woche, als er erstmals seit seiner Inhaftierung bei einem Gerichtsverfahren persönlich auftreten durfte. Tausende Anhänger warteten auf ihn vor dem Gericht und unterstützten ihn lautstark während der Verhandlung.

Im Saal begrüßte Demirtaş trotz der langen Haft seine Angehörigen und politischen Freunde mit einem strahlenden Lächeln. Seine Ausstrahlung war so überzeugend, dass selbst die Richter sich entgegenkommend zeigten und er eine längere politische Erklärung abgeben durfte.

Selahattin Demirtaş war acht Jahre lang als Co-Vorsitzender der HDP die unangefochtene Führungsfigur der Partei. Er war der erste kurdische Parteiführer, der es schaffte, eine Partei, die für die Rechte der kurdischen Minderheit eintritt, ins türkische Parlament zu bringen. Er setzte durch, dass die HDP keine ethnische Ein-Punkt-Partei blieb, sondern sich als linke alternative für die gesamte Türkei präsentierte. Diese Politik steht mit seinem Rückzug jetzt wieder infrage.

Die Gemeinsamkeit der Linken ist nun gefährdet

Ein prominenter HDP-Abgeordneter, Hasip Kaplan, forderte bereits, für den Parteivorsitz dürfe sich nur ein ethnischer Kurde bewerben. Zwar wurde dieser Vorstoß vom Parteivorstand abgelehnt, aber dennoch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die HDP sich wieder auf ihre kurdischen Wurzeln zurückzieht und die Zusammenarbeit mit der türkischen Linken ohne die Integrationsfigur Demirtaş wieder zusammenbricht.

Seit dem Ende der Friedensverhandlungen mit der PKK und dem Wiederbeginn der Kämpfe im Sommer 2016, war die Unterstützung der HDP bei türkischen Linken und Linksliberalen ohnehin schon stark zurückgegangen. Viele warfen der HDP vor, sich zu wenig deutlich von den Anschlägen der PKK zu distanzieren.

Auch bei dem Nachfolger von Demirtaş, der beim Parteitag am 11. Februar gewählt werden soll, wird es stark darauf ankommen, ob die Person glaubwürdig einen eigenständigen politischen Weg für die HDP verkörpert.

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