Anita-Rée-Ausstellung in Hamburg: Zum Schluss malte sie nur noch Schafe

Eine Hamburger Ausstellung würdigt die neosachliche Künstlerin Anita Rée, die von den Nazis in die Rolle der Jüdin gedrängt wurde und sich 1933 das Leben nahm. Ihren Stil bildete sie an der italienischen Renaissance

Anita Rée: „Verirrtes Schaf in verschneiten Dünen“, 1932/33 Foto: Christoph Irrgang

HAMBURG taz | Dieser Blick fasziniert sofort: Als wäre es gestern gemalt, blickt einem dieses Mädchen mit Silberdistel und Kopftuch entgegen, wach und freundlich, ein Mensch wie Du und Ich. Gemalt ist es wie ein Porträt der Renaissance, und das macht die Sache so interessant. Denn die Wahrheit liegt irgendwo zwischen Uralt und Brandneu: Aus den 1920er-, 1930er-Jahren stammen die in Hamburg gezeigten Porträts der Anita Rée, die so nah und fern zugleich wirken und es schaffen, die zeitliche Distanz zwischen Betrachter und Gemälde aufzuheben.

Denn das ist das Faszinierende an der neosachlichen Künstlerin und ihren Vorbildern der italienischen Renaissance: jene Ambivalenz zwischen Detailtreue und Kühle, aufgrund derer man gar nicht sagen kann, ob diese Gesichter nun besonders lebendig sind oder besonders künstlich.

Auch die Technik ist alt: Da sieht man keinen Pinselstrich, so glatt aufgetragen ist die Farbe – als solle nichts auf den Künstler als handelndes Subjekt verweisen, damit das Bild umso objektiver wirkt. Genau das wollten die Künstler nach dem gefühlsbetonten Expressionismus, den der Erste Weltkrieg beendet hatte.

Extreme Detailtreue

Jetzt, nach dem Ende der Illusion vom „reinigenden“ Krieg, der auch etliche Künstler und Literaten das Leben kostete, ging es nicht mehr um Pathos, sondern um Analyse und einen klaren Blick auf die sozialen Missstände. Dass die extreme Detailtreue und Hypergenauigkeit der neosachlichen Bilder manchmal aber wieder von der Realität wegführte, hat dieser Epoche auch den Namen „Magischer Realismus“ eingetragen.

Für die 1885 geborene, in den 1980er-Jahren wiederentdeckte Anita Rée, der Hamburgs Kunsthalle jetzt eine große Ausstellung widmet, war es ein weiter Weg zu diesem Stil. Lange hat die gebürtige Hamburgerin Cézanne, Munch, Kanoldt und Chirico rezipiert – mal wie dieser, mal wie jener gemalt, ohne ihren originären Stil zu finden.

Dabei wollte sie das immer, die jüdischstämmige, evangelisch erzogene Tochter aus gutem Hause, die als Frau damals keine Kunstakademie besuchen konnte und sich in informellen Kreisen weiterbildete – zunächst beim Impressionisten Arthur Siebelist, später in wechseln Ateliers. Sie wollte nicht als malende Frau, sondern als Malerin wahrgenommen werden – und explizit nicht als Jüdin.

Eine ihrer Wandmalereien existiert noch, weil die Schulleiterin das Bild durch eine Verschalung vor den Nazis schützte

Sie wollte hoch hinaus

Wenn sie überhaupt religiöse Motive malte, waren es christliche Madonnen, Jesus, der Judaskuss. Vor allem wollte sie hoch hinaus, wollte internationale Kunst sehen und schaffen, und das ist nach einem dreijährigen Aufenthalt in Italien,wo sie ausführlich die Antike und Renaissance studierte, gelungen.

Bei ihrer Rückkehr nach Hamburg 1925 gab es gleich Streit um das magisch-realistische Bild „Weiße Nussbäume“, einer Ansicht des Dorfs Positano, die sie in einer Schau der „Hamburger Secession“ zeigen wollte. Die Jury lehnte es als zu altmeisterlich ab, woraufhin sich Rée mit der Secession überwarf.

Ihrem Ruhm schadete das nicht: Denn in Italien hatte sie auch ihren typischen Porträt-Stil – jenen individuellen Mix aus Renaissance und Neosachlichkeit – entwickelt, der sie bekannt machte und ihr etliche Aufträge eintrug – auch für zwei Wandmalereien in Schulen. Eine davon existiert noch, weil die damalige Schulleiterin das Bild durch eine Verschalung vorm Zugriff der Nazis schützte.

Und Rées vor 1933 von der Hamburger Kunsthalle angekaufte Bilder hat der damalige Hausmeister Wilhelm Werner in seiner Dienstwohnung vor den Durchsuchungen der Nazis gerettet, sodass sie nicht in der NS-Schau „entartete Kunst“ gezeigt wurden.

Duktus der Präraffaeliten

Persönlich muss die Künstlerin, das ergaben Zeitzeugen-Befragungen der Hamburger Rée-Forscherin Maike Bruhns, eine oft fröhliche, temperamentvolle Frau gewesen sein, die enge Freundschaften unterhielt und sich gern inszenierte. Der damalige Kunsthallen-Chef Gustav Pauli, der sie intensiv förderte, schrieb, Rée sei bisweilen „schwierig und von zahllosen Hemmungen gelähmt“.

Andere vermuten, sie habe einen zu hohen Anspruch an ihre Kunst gehabt. Den sie allerdings problemlos erfüllte: Sehr klar erfasst sie die eigenwilligen Gesichter der „Bäuerin Lionarda“ oder der „Blauen Frau“ mit Kind; scharf gesehen hat sie das Misstrauen des „Farbigen Mädchens“, das mit großer Skepsis Modell gestanden haben muss. Die „Römerin auf Goldgrund“ erinnert an altägyptische Mumienporträts, das Bildnis der Hildegard Heise an den Duktus der Präraffaeliten; Rée rezipierte eben alles, was sie sah.

Am auffälligsten inszeniert wirken Rées Selbstporträts. Da posiert sie als selbstbewusste Frau mit rotem Hut in Hittfeld, mit kubistisch gelängtem Hals à la Picasso – oder als Traurige vor rotem Hintergrund. Und stets ist es eine Erzählung, eine Legende, die sie hier von sich selbst schafft: Die der Melancholikerin, wenn nicht Depressiven, am auffälligsten auf dem Selbstbildnis von 1930 vor fast hellgrünem Hintergrund.

Anrührende Mutter-Kind-Bilder

Denn so individuell das Porträt auf den ersten Blick wirkt, so exakt entspricht die ans Kinn gelegte Hand der in der Kunst üblichen Melancholie-Geste, wie sie etwa der befreundete Kunstwissenschaftler Aby Warburg in seiner „Pathosformel“ beschrieben hatte. Von ihm erfuhr sie auch, dass Mediziner der Renaissance die Koralle gegen „melancholische Fantasie“ empfahlen. Weswegen das Selbstporträt ein Korallen-Ohrring ziert.

Abgesehen von ihren Treffen in Künstler-, Sammler- und Wissenschaftlerkreisen weiß man aber wenig über das Privatleben der Künstlerin, die wohl Männer und Frauen liebte und zeitlebens darunter litt, dass sie keine Lebenspartnerschaft fand.

Umso anrührender wirken die von Picassos Kubismus inspirierten Mutter-und-Kind-Bilder oder das traurige Mädchen à la Edvard Munch. Genial erfasst auch der blinde Bettler: Der sieht einen wirklich an!

Etwas befremdlich wirken dazwischen Rées mit Affen und Papageien bemalte Schränke, die ihr Interesse an Kulturen aus aller Welt spiegeln. Vielleicht war es eine Übersprungshandlung – oder eine Erholung vom eigenen hohen Anspruch? Vielleicht auch ein Vorbote ihrer einsamen Zeit ab 1932 auf Sylt, wohin sie nach Angriffen der Nazis auf ihre Wandbilder floh und fortan fast nur noch Schafe malte?

Sie fühle sich von den Nazis in die Identität einer Jüdin gedrängt, empfinde sich als entwurzelt und einsam, hat sie geschrieben, kurz bevor sie sich am 12. Dezember 1933 das Leben nahm. In jenem Jahr schuf sie auch das anrührendste Bild der Hamburger Ausstellung: ein kleines Porträt ihrer Freundin Lotte Burk beim Besuch auf Sylt. Es ist eher impressionistisch als neosachlich und eine so private, liebevolle Huldigung, dass man spürt: Dies ist das wahre Vermächtnis, der wahre letzte Satz der Anita Rée.

Anita Rée, Retrospektive: bis 4. 2. 2018, Hamburg, Kunsthalle

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.