In jeder Bar eine Bühne

New Orleans, kurz vor dem 300. Geburtstag der Musikmetropole. Am Geburtsort des Jazz ist Geschichte Gegenwart

Marching Band beim Second Line, French Quarter New Orleans Foto: Zack Smith

Von Lorina Speder

Drückend schwüle Luft weht mir schon am Louis-Armstrong-Airport in New Orleans im Bundesstaat Louisiana im tiefen Süden der USA entgegen. Hier herrscht Anfang Dezember noch subtropisches Klima. Meine Gastgeberin Gabi trägt auch nachts bei 28 Grad vorsichtshalber ihre Strickjacke. „Sonst friere ich noch.“ Bei der nächtlichen Suche nach der Musik in New Orleans ist sie meine immer strahlende Begleitung. „Du bist Musikerin?“, fragt sie zur Begrüßung. „Dann wirst du es hier lieben!“, sagt sie und umarmt mich kurz.

Kommendes Jahr feiert New Orleans 300. Geburtstag. Fast genauso alt ist die Musik in der Stadt. Bourbon Street und Frenchmen Street im French Quarter genannten Innenstadtbezirk gelten als die Geburtsorte des Jazz. Tradition und Geschichte fallen im „Big Easy“ zusammen. Was bedeutet es, wenn eine Stadt das Erbe des globalen Jazz in sich trägt? Kann man als ortsfremde Musikerin dazu beitragen? Was ist passiert, seit der Hurrikan Katrina vor über zwölf Jahren die Metropole verwüstet hat?

Die Wohngegend Faubourg Marigny liegt in der Nähe der Frenchmen Street. Sie blieb vom Hurrikan 2005 weitgehend verschont. Die Häuser stehen eng beieinander, viele über 100 Jahre alt, eine Seltenheit in einem Land, das keinen richtigen Denkmalschutz kennt. Säulen und Balkone erinnern an den europäischen Einfluss. Noch heute haben die kulturellen Überreste der vergangenen Jahrhunderte Auswirkungen in New Orleans. Die französische Besetzung endete bereits 1803 mit dem Verkauf der gesamten, über weite Teile der USA reichenden Fläche der Kolonie Louisiana durch Napoleon Bonaparte. Die alten Straßennamen im French Quarter, obwohl längst US-amerikanisch betont, und die französische Lebensart haben die Anwohner aber beibehalten.

In den Bars und Restaurants der Frenchmen Street wird täglich ab 17 Uhr Musik gemacht. Jedes Etablissement besitzt eine Bühne. Auch wenn sie noch so klein ist, für Kontrabass, Gitarre und Drums ist Platz. Trotzdem scheint die Szene nicht offen für alle. Fragt man in Bars nach Jams und Open Stages, bekommt man ein Schulterzucken zur Antwort. Wo die improvisierte Kunst erfunden wurde, spielen die Bands Standards und eingeübte Songs.

Am ersten Abend in der Marigny Brasserie sitze ich also an der Bar und esse Gumbo mit Meeresfrüchten (Eintopf). Die Gäste lauschender Musik von Grayson Brockamp & The Wildlife Band, sie spielen Klassiker, etwa von Marvin Gaye, und Eigenkompositionen und klingen weltklasse. Der im lässigen Blaumann bekleidete Kontrabassist brilliert. Der Schlagzeuger entpuppt sich als ausgebildeter Sänger. Als die Sonne untergeht, ist das Restaurant gefüllt. Bei „Let’s Stay Together“ von Al Jarreau singen alle mit.

Vor der Tür geht es weiter

Seine tiefe Bass-Stimme singt und rappt von der Stadt

Auf der Straße vor der Tür geht es weiter. In New Orleans ist es erlaubt, dass man seine Drinks von einem Lokal ins nächste mitnimmt. So wandern die Gäste von Bar zu Bar. Ein Gitarrist spielt auf dem Gehweg, Zuhören lohnt sich: Das Klackern der Schreibmaschinen auf den kleinen Tischen der Street-­Poets formt einen unregelmäßigen Rhythmus. Obwohl mir zahlreiche Musiker auf den Straßen in der Nacht begegnen, richtig kreativ werden sie tagsüber. Sie trommeln auf Mülleimern und anderen zweckentfremdeten Schlagzeugteilen vor den Geschäften im French Quarter. Kaum ein Block, an dem man kein Konzert hört – in New Orleans scheint jeden Tag Fête de la Musique zu sein.

Auch Blasmusik, aus der sich der Jazz entwickelt hat, ist hier aktuell. Fast jede Woche sind Straßen für die spektakulären „Second Lines“ gesperrt. Die Tradition der typischen Paraden, angeführt von einer Blaskapelle, geht in das 19. Jahrhundert zurück. Hinter den Musikern tanzen die Gäste bis zum Zielort – bei der Eröffnung des Film-Festivals von New Orleans ging es vom Orpheum Theater bis zur Opening Night Party drei Straßen weiter.

Es sind aber die nicht organisierten Happenings, die das Erbe des Jazz und der hier geborenen Größen wie Louis Arm­strong oder dem gerade verstorbenen Fats Domino weitertragen. Seit Jahren performt ein Trio aus Tuba, Posaune und Trompete täglich auf dem großen Platz vor der Kathedrale. Im Repertoire haben sie unter anderem den „St. Louis Blues“, den Armstrong 1925 auf seinem Kornett zusammen mit der Bluessängerin Bessie Smith einspielte.

Aber auch später bekannt gewordene Melodien wie „They Can’t Take That Away From Me“ liegen in der Luft. Doch auch hier komme ich nicht dazu, hinter die Kulissen des Musizierens zu blicken. In einer kurzen Pause zwischen den Songs gehe ich zu einem älteren Musiker, der seine Tuba säubert, um zu fragen, wo sie denn sonst musizieren. Er versteht meine Frage nicht und denkt, ich wolle ein Foto mit ihm. So eine gewünschte Verabredung mit den Profis der Stadt ist vielleicht auch illusorisch, denke ich sofort und lächle ihn missverstanden an. Ich danke ihm deshalb schnell für die Musik und spende ein paar Dollars in den großen Pappkarton in der Mitte des Platzes. Überlebenswichtig für die Künstler.

Die Armut in New Orleans ist nicht erst seit Katrina ein Thema. Durch den verheerenden Wirbelsturm wurde sie nur weltweit bekannt. Die vielen zerstörten Häuser ließen die Zahl der Obdachlosen dramatisch ansteigen. Betroffen waren sehr viele afroamerikanische Einwohner. Hausbesitzerin Gabi beschreibt die Situation: „Es war schrecklich und ausweglos. Fast die Hälfte meiner Freunde musste aus New Orleans wegziehen. Sie hatten kein Dach mehr über dem Kopf und die Kriminalität hatte zugenommen.“ Auch heute sind die Schießereien in den einst überschwemmten Stadtteilen wie Holy Cross im Bezirk Lower Ninth Ward ein Alltagsproblem. Oft geht es dabei um Drogen. Gabi selbst ist nach dem Hurrikan für fünf Jahre nach New York gezogen. Nun sei sie aber froh, seit zwei Jahren zurück zu sein. „New York ist tot – die Leute sind so gefangen in ihrem Leben, dass sie das Schöne und Aufregende gar nicht mehr bemerken. New Orleans ist da noch anders, die Stadt entwickelt sich immer weiter“, sagt sie und freut sich, dass ihre Gegend New Marigny gerade im Wandel steckt.

Music is not a crime: Windex Pete Foto: Lorina Speder

Auf unseren Exkursionen begrüßt sie dort die nächtlichen Gestalten auf der Straße mit einer Wärme, die man nur im Süden der USA erlebt. Sie sei zwar ein paar Mal ausgeraubt worden – sie geht jeden Tag aus, das sei zwar ärgerlich, aber nicht bedrohlich. Trotzdem rät sie ihren Gästen, in den späten Stunden lieber mit Taxi oder Fahrrad unterwegs zu sein.

Bei einem Nachbarschaftstreffen der neu eröffneten Bar The Goat kommt es zu einer Begegnung mit dem Straßenmusiker Windex Pete. Schon von weitem erkennt Gabi den Musiker an seinem lilafarbenen Hut und der großen, schlanken Statur. Den lässigen Fahrrad-Chopper mit tiefem Sitz schiebt er ruhig vor sich hin, bevor er Gabi väterlich begrüßt und ihr von den Berühmtheiten, die er kennt, erzählt. Stolz zeigt er das Foto mit Sandra Bullock. Dabei kommt die Rede auf die deutsche Familiengeschichte der Schauspielerin und meine Staatsangehörigkeit. Er hängt sich sein sonst am Rücken strahlendes Skiffle Board aus Metall vor die Brust, rückt seine Sonnenbrille zurecht, fragt nach meinem Namen und beginnt mit Löffeln einen Rhythmus auf dem Board zu trommeln. Seine tiefe Bass-Stimme singt und rappt von der Stadt, dem Jazz und den wenigen Menschen, die nun auf dem Bürgersteig vor ihm zu tanzen beginnen. Auf die Frage, was er noch macht, kommt er mir näher, nimmt die Sonnenbrille ab und wird ernst. Seine blindes Auge blinkt in hellem Blau, das andere mit dunkler Iris: „What I do? Baby, it’s all about music, cause this is where it started“, raunt er.

In New Orleans hat alles angefangen – und mit Musikern wie ihm geht es immer weiter. Pete besteht darauf, Nummern auszutauschen und am nächsten Tag neue Lieder zu komponieren. Um das Erbe des Jazz muss man sich jedenfalls keine Sorgen machen. Windex Pete ist sich seiner Aufgabe bewusst. Er rückt den Hut zurecht und hüpft auf sein Fahrrad. „Ich sehe euch morgen – ab 16 Uhr, bei Jazz in the Park“, brummt er. Der Jazz, er lebt hier immer weiter, auch durch seine Person. Nur mein Koffer für die Rückreise am nächsten Tag, der war schon gepackt.

Lorina Spederist Musikerin und schreibt als freie Autorin für die taz