: Gefordert wird: eine Kunst ohne Verpflichtung
In ihrem aktuellen Essayband „Duty Free Art“ arbeitet Hito Steyerl – gerade zur einflussreichsten Akteurin der Kunstwelt in diesem Jahr gekürt – ihre Kritik an der zeitgenössischen Kunst aus
Von Sophie Jung
Während dieser Text geschrieben wird, läuft Deep Brown Noise im Hintergrund. Das ist ein digital generiertes tiefes Rauschen. Sein beständiger sanfter Lärm kann die Konzentration steigern. Deep Dream wiederum ist eine Erkennungssoftware von Google, die mithilfe eines künstlichen neuronalen Netzes Muster in visuellen Materialien erfassen kann. „Das Träumen des Computers“ wird dieser Bildprozess genannt. Bizarre Chimären wie puddingartige Massen mit Hundeschnauzen und Pfauenaugen können aus ihm hervorkommen.
Die Filmkünstlerin und Theoretikerin Hito Steyerl fragte sich 2016 in einem Vortrag im New Yorker Whitney Museum, ob nicht in einer Zeit des Deep Noise, Deep Learning und Deep Dream auch der Staat zu einem Deep State würde. Für solch eine digital gesteuerte Regierung wäre alles algorithmisch vorhersagbar, sie liefe aber auch Gefahr – wie die Bilder des träumenden Computers –, unserer menschlichen Vorstellung zu entweichen.
Mit dem Titel „Sea of Data“ erscheint dieser Vortrag nun in einem Essayband neu. Er ist einer von fünfzehn aktuellen Essays, die Steyerl – kürzlich vom internationalen Kunstmagazin ArtReview als die einflussreichste Person der Kunstwelt gekürt – in ihrer jüngsten Publikation „Duty Free Art. Art in the Age of Planetary Civil War“ versammelt.
Wie auch in ihren Filmen zeigt sich Hito Steyerl, Professorin für Medienkunst an der Universität der Künste Berlin, in diesen fünfzehn theoretischen Arbeiten als Medienkritikerin.
Das Internet mit seinen umherschwirrenden Tweets, Chats und Pics ist ihr Mittel zur Beobachtung der aktuellen Weltlage. Doch schaut sie in ihren Texten hinter die Bildschirmoberfläche und entdeckt dort einen globalen Krieg. Donald Trump, Recep Tayyip Erdoğan oder Baschar al-Assad treten darin als Feldherren des Finanzkapitals und der Geopolitik auf. Aber auch die Subversiven begeben sich aufs digitale Schlachtfeld, linke Hacker, Edward Snowden und selbst Spam-Mails verschickende Finanzbetrüger aus Nigeria, die sich letztlich auf ihre Art gegen die globale Ungerechtigkeit auflehnen.
Zentral für den Band ist der titelgebende Essay „Duty Free Art“. Darin arbeitet Steyerl, zuletzt Teilnehmerin der „Skulptur Projekte“ in Münster in diesem Jahr, ihre bereits viel zitierte Kritik an der zeitgenössischen Kunst aus, deren Besitzverhältnisse und institutionelle Repräsentationen sie als ein Abbild der sozialen Gespaltenheit in der kapitalistischen Gesellschaft sieht. Sie beginnt ihre Überlegungen mit einer wirklich absurden Einrichtung des Kunstmarkts: Freeports. Das sind jene Depots für Luxusgüter an den Flughäfen in Genf, Singapur und Luxemburg, in denen Kunstwerke frei von Zollgebühren gelagert und zugleich jeglichem Publikum entzogen werden. In einem solchen luxuriösen Niemandsland in Genf fanden italienische Carabinieri 2014 Raubkunst aus dem syrischen Palmyra, kurz bevor die antike Stätte vom IS zerstört wurde.
Um diese Kopplung von Ultra-Elite, Kunst und Krieg knüpft Steyerl einen so freimütigen wie erhellenden Text, in dem sie investigativen Journalismus, Traumsequenzen und philosophische Räsonnements zu einer assoziativen Spurensuche verbindet.
Darin tauchen auf: Die Syrien-Akten von Wikileaks und die First Lady Asma al-Assad, die kurz vor Ausbruch des Krieges 2011 neue Museen für ihr Land plante. Das berühmte Rotterdamer Architekturbüro OMA von Rem Koolhaas und Gaddafis kunstschaffender Sohn Saif al-Islam, der sich vor dem Sturz seines Vaters ebenfalls ein Museum für Libyen wünschte, auch entworfen von OMA. Schließlich eine Kunsthalle, die weit weg von nationalen Repräsentationsgelüsten autoritärer Regimes in der türkischen Stadt Diyarbakır zu Beginn der IS-Invasion im Irak ihr Ausstellungsprogramm aufkündigte und stattdessen Flüchtlinge in ihren Räumen beherbergte. All diese Motive weiß Steyerl zu verknüpfen wie die Hyperlinks eines ausgedehnten Wikipedia-Artikels.
Trotz der von ihr als so dunkel skizzierten Aktualität zeigt sich Steyerl als humorvolle Schreiberin. Spielerisch münzt sie philosophische Konzepte und Begriffe um: artificial intelligence wird zu artificial stupidity, greenwashing zu art washing und Heideggers Dasein zum Tode wird zu Design zum Tode.
Duty Free Art ist auch so ein Neologismus. Den nimmt sie in ihrem zentralen Essay wörtlich und fordert eine Kunst ohne Verpflichtung, eine autonome Kunst, die in niemandes Namen und für kein Museumsprojekt herangezogen werden kann.
Dass dies eine utopische Idee ist, weiß auch die Hyperrealistin Steyerl. Doch warum nicht auch mal ein positives Motiv in ihre bösen und so dicht verstrickten Szenarien werfen?
Hito Steyerl: „Duty Free Art. Art in the Age of Planetary Civil War“. Verso Books, 2017, 256 Seiten
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