der rote faden: Wildschwein, durch den Bernd-Ulrich-Filter betrachtet
Durch die Woche mit Nina Apin
Letzte Woche vor Weihnachten. Endspurt. In allen Gesellschaftszusammenhängen waren die Weihnachtsfeiern schon absolviert: Basar in der Schule, essen mit der Abteilung, singen im Kindergarten, auch die taz hatte eine große Jahresendfeier für alle Angestellten und Freien nebst Anhang aus Redaktion, Verlag und Café veranstaltet. Am Montag wurde dann die inhaftierte deutsche Journalistin Meşale Tolu auf freien Fuß gesetzt, endlich mal wieder eine gute Nachricht aus der Türkei. Und trotzdem wollte zum Wochenauftakt keine rotwangige Harmonie in der Zeitung aufkommen.
Im Gegenteil, es knallte zunächst ordentlich: Warum, fragte ein Kollege im internen Mailverteiler, gab es für Muslime eigentlich keine Alternative zum Wildschweingulasch? Zwar wurden schweinefleischfreie Vorspeisen und ein wirklich schmackhaftes Pilz-Tofu-Gulasch serviert. Aber warum, fragte eine Kollegin, mache man Menschen, die kein Schwein essen, zu ZwangsvegetarierInnen? Hätten nicht alle ein Recht auf Fleisch? Manche sahen das wieder ganz anders: Warum müssten sich VegetarierInnen und VeganerInnen überhaupt den Anblick „verbrannter Fleischlappen“ reinziehen? Ein vegetarisch-veganes Büffet sei ja wohl völlig ausreichend. Besser für den Planeten auch und ein echter Ausdruck von Diversity. Apropos Diversity, schaltete sich eine Kollegin ein: Ein Unternehmen, das sich Inklusion auf die Fahnen schreibe, könne ja wohl keine Party in einem Raum im ersten Stock veranstalten – ohne Fahrstuhl.
Boah, haben die keine anderen Probleme, war meine erste Bauchreaktion. War doch eine super Party, und hinterher wieder nur Genörgel. Dann aber hatte ich diesen Bernd-Ulrich-Moment: Der las in der Zeit vom Dienstag dem SPD-Außenminister Gabriel die Leviten. Gabriel hatte sich im Spiegel zur Zukunft seiner Partei geäußert. Die habe sich in letzter Zeit zu viel mit „postmodernen“ Themen beschäftigt wie Klimaschutz oder Geschlechtergerechtigkeit. Gabriel wünschte sich wieder mehr „Rust Belt“ (in Deutschland würde man das mit den berühmten, hart arbeitenden „kleinen Leuten“ übersetzen) und weniger Nähe zu „kalifornischen Hipstern“. Mal abgesehen davon, dass es eine Frechheit ist, Ehe für alle, Nein heißt Nein und Klimawandel als Hipsterthemen zu bezeichnen, machte Bernd Ulrich einen tollen Punkt. Nicht die Postmoderne mit ihrer Überempfindsamkeit nähre Unbehagen, schrieb er. Eher käme das Behagen einer Mehrheit wohl daher, dass viele Minderheiten sich nicht „nachdrücklich“ äußern konnten.
„In den guten alten Zeiten der Sozialdemokratie […] waren die Kinder braver, die Schwulen stiller, die Frauen fügsamer, die Gastarbeiter sprachloser, die Patienten genügsamer und die Stammwähler treuer. Aber warum? Weil sie von Angst, Gewalt und Gewohnheiten klein, still und treu gehalten wurden.“
Wow. Da war er, mein Bernd-Ulrich-Moment. Wenn man eine vielschichtige Gesellschaft/Partei/Zeitung sein will, dann muss man auch Platz für andere machen. Weniger Mehrheitsbehagen, aber mehr Behagen für alle. Das kann heißen: kein Wildschwein auf der Weihnachtsfeier als Geste der Anerkennung für den Kollegen.
Das Bedürfnis nach Anerkennung darf man als gesellschaftliche Kraft nicht unterschätzen. Angela Merkel dürfte in dieser Woche beim Treffen mit Opfern des Anschlags vom Berliner Breitscheidplatz gespürt haben, dass es sie viel Sympathie gekostet hat, die Hinterbliebenen in ihrem Leid zu wenig anerkannt zu haben.
Anerkennen im Sinne von jemanden sehen und wahrnehmen, in seiner Existenz und seinen Bedürfnissen, ist aber nur der erste Schritt. Der zweite muss, wenn man es ernst meint, handeln heißen. Im Fall der sogenannten Pink Tax, die diese Woche mal wieder diskutiert wurde, heißt das: Es wird als Problem wahrgenommen, dass Frauen für gleiche Produkte und Dienstleistungen durchschnittlich mehr zahlen als Männer. Daraus kann nur folgen, dass Damenrasierer bitte schön genauso wenig kosten wie Rasierer für Männer. Und dass Tampons und Binden nicht mehr als „Luxusartikel“ besteuert werden. Symbolisch gesprochen heißt das: Der Gesetzgeber soll Frauen nicht mehr als Abweichung von der männlichen Norm begreifen, sondern in ihren Grundbedürfnissen als gleichwertig behandeln.
Mit dem Bernd-Ulrich-Filter im Kopf finde ich es gar nicht so absurd, dass das schwedische Parlament jetzt eine Neuerung im Sexualstrafrecht eingeführt hat: Künftig gilt Sex dort nur noch als freiwillig, wenn sich die Beteiligten vorher ausdrücklich der Zustimmung des/der anderen versichert haben. Alles andere gilt als Vergewaltigung. Nur Ja heißt Ja. Man könnte auch sagen: Jeder muss sich kurz die Mühe machen, den/die andere wahrzunehmen, bevor es zur Sache geht.
In diesem Sinne: Frohes Fest!
Nächste Woche Robert Misik
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