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„Mir ist es nicht so wichtig, eine Heimat zu haben“

Sein Urgroßvater war ein berühmter Kurdenführer, zwei Onkel entwickelten das kurdische Alphabet. Und auch der in Istanbul aufgewachsene Safter Çınar war nicht untätig. Seit den Sechzigerjahren engagiert er sich berlin- und deutschlandweit als Gewerkschafter und Gründer wichtiger MigratInnenorganisationen. Mit Erfolg, denn dass Einwanderer und Ausländer heute selbstverständlich zur deutschen Gesellschaft gehören, ist sicher auch sein Verdienst

Interview Alke WierthFotos Lia Darjes

taz: Herr Çınar, vor einem halben Jahrhundert haben Sie das Land verlassen, in dem Sie geboren wurden, und fast ebenso lange sind Sie in Deutschland im Einsatz für die Rechte von Einwanderern. Was will man da nicht gefragt werden?

Safter Çınar: Warum sprechen Sie so gut deutsch? (lacht) Eine Korrektur: Ich bin in Brüssel geboren, wo mein Vater damals als Gastprofessor für Land- und Forstwirtschaft an der Universität war. Aber die Türkei ist das Land, wo ich aufgewachsen bin.

Und wo genau?

In Istanbul.

Dort sind Sie auf das berühmte Galatasaray-Gymnasium gegangen – oder warum der Ring mit dem Klubsymbol?

Nein, den Ring trage ich, weil mein Vater eine Zeit lang Präsident des Istanbuler Fußballklubs Galatasaray war. Ich habe das deutsche Gymnasium besucht.

Warum das?

Mein Vater sprach deutsch, er hatte Mitte der Zwanzigerjahre in Freiburg studiert. Ich war von Kindheit an mit Deutschland und der deutschen Sprache konfrontiert.

Sie stammen aus einer berühmten Familie.

Ja, unsere Familie ist keine klassische Gastarbeiterfamilie. Eher Großbourgeoisie. Mein Urgroßvater väterlicherseits war der Kurdenführer Bedirhan Paşa, der heute immer noch verehrt wird, weil er einige Schlachten gegen die Osmanen gewonnen – und auch einige verloren hat.

Er war Mitte des 19. Jahrhunderts Emir des unabhängigen kurdischen Fürstentums Botan.

Ja. Auch die Vorfahren meiner Mutter waren in hohen Ämtern im Osmanischen Reich, allerdings überwiegend in Opposition zum Sultan. Mein Großonkel war der Arzt Kemal Atatürks, ein Onkel später sein Bildungsminister.

Dass ein Kurde Präsident von Galatasaray wird, ist das so, als wird ein Preuße Präsident von Bayern München?

Nur ein Teil unserer Familie ist der kurdischen Sache treu geblieben. Zwei meiner Onkel haben das kurdische Alphabet entwickelt. Andere, wie mein Vater und der andere Onkel, haben sich assimiliert.

Heißt die Familie deshalb heute Çınar und nicht Bedirhan?

Nein, als Atatürk mit der Republikgründung Familiennamen in der Türkei einführte, hat er diesen Namen vorgeschlagen. Ich vermute, er wollte den Namen Bedirhan bei so ranghohen Leuten vermeiden. Da hat er Çınar vorgeschlagen, das bedeutet Platane – weil wir alle so groß gewachsen sind.

Eine großbourgeoise kurdisch-türkische Istanbuler Familie – dann sind Sie in einer Villa am Bosporus aufgewachsen?

Fast: Villa stimmt, Bosporus nicht. Allerdings nicht sehr lange. Als ich etwa fünf Jahre alt war, hat mein Vater die Uni aufgegeben und sich selbständig gemacht, und da die Geschäfte nicht so gut gingen, haben wir die Villa dann verkauft.

Und hier sind Sie dann ein Linker geworden?

Alle in der Familie haben gegen den Staat und Ungerechtigkeit rebelliert. Insofern war mir die Kritik an den Zuständen in die Wiege gelegt. Ich bin Ende der Sechzigerjahre gekommen, da hatte gerade die Studentenbewegung angefangen. Da war ich dabei.

Was haben Sie studiert?

Ich hatte mich erst als Wirtschaftsingenieur eingetragen, später für Betriebswirtschaft immatrikuliert, dann bin ich auf die Fachhochschule für Wirtschaft gewechselt. Ich war kein sehr fleißiger Student. Es hat 20 Semester gedauert, bis ich einen Abschluss hatte.

War die Idee damals: studieren und zurück in die Türkei?

Ja, das war klar.

Warum haben Sie nicht in der Türkei studiert?

Ich hätte in Ankara Politik studieren können, aber ich vermute, dass ich damals wegen meiner politischen Einstellung und Aktivitäten im Knast gelandet wäre.

Heute entsteht oft der Eindruck, erst der amtierende türkische Staatspräsident Erdoğan habe die Verfolgung Andersdenkender in der Türkei eingeführt.

Safter Çınar

Der Mensch Safter Çınar wurde im Mai 1946 in Brüssel geboren und wuchs in Istanbul auf. 1967 kam er als 21-Jähriger zum Studium der Betriebswirtschaftslehre nach Berlin. Çınar ist heute Vater von zwei erwachsenen Töchtern und lebt in Schöneberg.

Der Engagierte Von 1979 bis 1991 arbeitete Çınar bei der Schülerberatung des Arbeitskreises Neue Erziehung (ANE) in Berlin. Von 1991 bis 2006 leitete er die Ausländerberatungsstelle des Deutschen Gewerkschaftsbundes Berlin Brandenburg (DGB). 1983 bis 1991 war Çınar zweiter und zeitweise erster Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Berlin. Außerdem gründete Çınar verschiedene MigrantInnenorganisationen mit, darunter den Türkischen Bund Berlin (TBB), die Türkische Gemeinde Deutschland (TGD), den Türkischen Elternverein Berlin und die bundesweite Föderation der türkischen Elternvereine in Deutschland (FÖTED). Von 2005 bis 2012 war Çınar DGB-Vertreter im Integrationsbeirat des Berliner Senats.

Der Geehrte 2005 erhielt Çınar die Bundesverdienstmedaille, 2010 den Verdienstorden des Landes Berlin. (akw)

Ja, aber das ist ein großer Fehler. Folter, Verfolgung gab es in den früheren Zeiten, vor allem nach den Militärputschen, auch. Erdoğan macht es ohne Militärjunta mithilfe der Zivilgerichte, er hat das sozusagen demokratisch weiterentwickelt, zynisch gesagt. Aber dass die Türkei je ein Rechtsstaat war, bezweifle ich.

War Ihre Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, also auch politisch begründet?

Nein. Ein Freund hatte mir gesagt, hier sei es schön, es gebe viele Landsleute, ich solle doch auch kommen. Es waren schon Arbeiter aus der Türkei hier, und eben viele Studenten aus der Türkei, die meisten Staatsstipendiaten. Jemand erzählte mir mal, die Türkei habe irgendwann beschlossen, keine Stipendiaten mehr nach Berlin zu schicken, weil die hier alle Kommunisten wurden. Es gab auch viele StudentInnen aus anderen Ländern, die damals an der Studentenbewegung beteiligt waren, aus Griechenland etwa und aus dem Iran.

Dann haben Sie Berlin von Anfang als so eine Art internationale revolutionäre Kaderschmiede erlebt?

Ja, damals war das so.

Viele Politiker scheinen erst heute zu merken, wie international Berlin ist – wenn es etwa um die Zweisprachigkeit an Schulen geht.

Das stimmt. Ich war ab 1983 acht Jahre lang stellvertretender GEW-Vorsitzender …

… der Gewerkschaft der PädagogInnen und WissenschaftlerInnen …

… und auch eine Zeitlang Berliner GEW-Vorsitzender. Damals haben wir schon für muttersprachlichen Unterricht an den Schulen gekämpft.

Moment: Sie haben Wirtschaft studiert, wie kamen Sie zur Bildungsgewerkschaft?

Ich hatte zuvor in der Schülerberatung beim Arbeitskreis Neue Erziehung gearbeitet. So bin ich zu den Bildungsthemen gekommen. 1985 haben wir den Türkischen Elternverein gegründet …

.. dessen Vorsitzender Sie einige Jahre lang waren …

… später dann auch den Türkischen Bund Berlin Brandenburg, 1995 die Türkische Gemeinde Deutschland als Dachverband türkischer Vereine und etwas später die Föderation türkischer Elternvereine in Deutschland.

Auch deren Vorsitzender waren Sie.

Und das war alles gar nicht so leicht!

Warum?

Die türkische Community war damals schon ziemlich divers und es war nicht einfach, alle unter einen Hut zu bringen. Kompromissler – das galt gerade unter linken Türken lange als Schimpfwort. Dabei halte ich die Fähigkeit, Kompromisse zu schließen, für die einzige, die die Menschen von den Tieren unterscheidet. Das erste, was ich mit gegründet habe, war übrigens bereits 1977 das sogenannte Ausländerkomitee. Das hat man mir später bei der Einbürgerung vorgeworfen.

Wann ließen Sie sich einbürgern?

Das hat von 1983 bis 1990 gedauert! Zu der Zeit gab es noch Richtlinien, die Tätigkeiten in den sogenannten Ausländervereinen als Einbürgerungshindernis sahen. Dazu kam, dass ich damals keinen türkischen Pass hatte.

Warum nicht?

Das türkische Konsulat weigerte sich, mir einen neuen auszustellen, aus Staatssicherheitsgründen, wie sie sagten. Und als ich mich ausbürgern lassen wollte, bekam ich ein Schreiben, dass man mich aus Staatssicherheitsgründen nicht aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen würde. Das Ganze hatte aber einen Vorteil: Als ich dann endlich den deutschen Pass bekam, war die Einbürgerungsgebühr von zwei Dritteln des Monatseinkommens auf 100 Mark gesenkt worden!

Zurück zu den Bildungsthemen: Kamen Sie dazu, weil Sie Kinder haben?

Damals hatte ich bereits eine Tochter, später zwei, beide längst erwachsen.

Und eine davon hat einen Sohn – und eine Ehefrau.

Ja! Und?

Nichts! Doch: War das für Sie immer selbstverständlich, dass der Kampf gegen die Diskriminierung von Minderheiten auch bedeutet, für die Rechte Homosexueller und anderer Benachteiligter einzutreten?

Das war eine Entwicklung. Ich habe zwar in meiner bürgerlichen Erziehung gelernt, man müsse alle Menschen achten. Aber das ist natürlich viel zu wenig. Nein, ich denke schon, dass ich vieles durch die Diskussionen und Entwicklungen hier gelernt habe.

Da fällt mir auf: Wir haben noch gar nicht über Religion gesprochen!

Ich bin nicht religiös erzogen worden und bin es bis heute nicht – vielleicht ein Relikt meiner kemalistischen Erziehung. Und vielleicht aus demselben Grund war ich anfangs ein Verfechter des Neutralitätsgesetzes …

das LehrerInnen in Berlin das Tragen religiöser Symbole wie dem Kopftuch verbietet.

Aber ich habe meine Meinung dazu geändert: Heute bin ich gegen das Neutralitätsgesetz.

Sie haben kein Problem damit, Ihre Meinung zu ändern und das zuzugeben?

Nein, warum? Ich habe nichts zu verheimlichen.

Warum haben Sie eigentlich nie selbst als Parteipolitiker bei einer Wahl kandidiert? Sie sind Mitglied der Linkspartei.

Es gab Angebote, aber da ich meine politischen Aktivitäten überwiegend in der Gewerkschaft oder nichtstaatlichen Organisationen geführt habe, habe ich so eine politische Sozialisation, nicht eine bestimmte politische Richtung streng zu vertreten, sondern viele zusammenzubringen. Und als Abgeordneter einer Partei muss man eine Parteilinie vertreten, auch wenn die Mist ist.

Was hat sich in Ihren Jahren in Deutschland hier integrationspolitisch und gesellschaftlich zum Besseren verändert?

Es wird heute anerkannt, dass Ausländer, Einwanderer, Menschen sind. Und es wird einiges für ihre Beteiligung getan, auch wenn es noch zu wenig ist. Aber in vielen politischen Diskussionen schimmert immer noch der Gedanke durch, so ganz gehörten die Einwanderer nicht dazu. Und nicht zuletzt wird Rassismus wieder salonfähiger. Aber ich muss eines sagen: Ich höre manchmal auf Demos gegen Rassismus Leute rufen, sie schämten sich, Deutsche zu sein. Das ist sicherlich gut gemeint, aber ich finde das absolut daneben.

Warum?

Dialektisch gesehen ist das nicht weit entfernt von der gegenteiligen Aussage, ich bin stolz, Deutscher zu sein. Aber man trägt doch nur Verantwortung für das, was man als Mensch gemacht hat. Seine Herkunft kann man aber nicht beeinflussen. Sie ist deshalb weder etwas, worauf man stolz sein, noch etwas, wofür man sich schämen kann.

Der Begriff Heimat, sagt der Ihnen etwas?

Ich habe damit Schwierigkeiten. Da steckt oft etwas versteckt Nationalistisches drin. Mir ist es nicht so wichtig, eine Heimat zu haben. Aber ich fühle mich in Berlin wohl, das ist mein Lebensmittelpunkt.

Wo sind Sie in Berlin besonders gerne?

Überall! Ich werde die Frage anders herum beantworten: Ich mag den Wald nicht – vielleicht, weil mein Vater Forstwirtschaftler war. Das gab übrigens stets Probleme mit deutschen Freundinnen, die wollten immer im Wald spazieren gehen. Aber ich bin absoluter Großstädter, ich muss Trubel haben, wenn ich vor die Tür gehe. Seit ich Rentner bin, sagen manche Leute mir: Warum gehst du nicht woanders hin, wo es ruhiger ist?

Und?

Ich denke nicht mal daran!

Auch nicht daran, wieder in der Türkei zu leben?

Ich fahre momentan nicht mal dorthin.

Warum nicht?

Ich kümmere mich zur Zeit sehr viel um neue türkische Exilanten, die als Erdoğan-Flüchtlinge nach Berlin kommen – Künstler, Wissenschaftler. Deshalb glaube ich nicht, dass ich dort sicher bin.

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