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Eine Materialliste namens Felsenstein

Die Komische Oper ist 70. Zum Jubiläum gibt es „Anatevka“, und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache

Von Niklaus Hablützel

Feiern kann er wirklich, der australische Intendant und Regisseur Barrie Kosky, der die Komische Oper seit 2012 leitet. Schon jetzt steht fest, dass auch der 50-Jährige eine Legende sein wird, falls er diese Institution jemals wieder verlassen sollte. Eine Legende wie einst Walter Felsenstein, der Erfinder all dessen, was heute „Musiktheater“ heißt. Den musste Kosky am Anfang seiner Amtszeit aber erst einmal vom Sockel stoßen. Denn die Geschichte des Hauses an der Behrenstraße begann nicht erst 1947, als Felsenstein es unter Aufsicht der sowjetischen Militärverwaltung unter dem neuen, für sein Konzept stehenden Namen „Komische Oper“ wiedereröffnet hat.

Kosky wurde nicht müde, mit wegweisenden Inszenierungen fast vergessener Operetten daran zu erinnern, das hier das „Metropol“ stand, ein Zentrum der jüdisch geprägten Unterhaltungskultur der zwanziger Jahre, die ja vielleicht tatsächlich ein wenig „golden“ waren. Aber am Sonntag kehrte Felsenstein zurück, es ging um seinen Anteil an der Tradition des Hauses, und Kosky hatte den amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) zu einer Hommage eingeladen.

Eine Liebeserklärung

Mit der großen Geste eines Ansagers im Kabarett stellte er ihn vor, und tatsächlich sprach Steinmeier überhaupt nicht wie ein Staatsoberhaupt. Sein Büro hatte ihm Felsensteins schier endlose Materialliste ausfindig gemacht, die er bei den Sowjets einreichen musste, um das von ihnen gewünschte Theater eröffnen zu können. Witzig und von Applaus unterbrochen entstand daraus die glaubhafte Liebeserklärung eines Mannes, der gerade eine neue Welt entdeckt und sie einfach großartig findet. Ja, sicher auch wichtig für das große Ganze des Landes, aber vor allem wunderbar und anders.

Lästiger Discohit

Damit war die Bühne frei für den „Fiddler on the roof“, wie der US-Originaltitel des Musicals „Anatevka“ von 1964 lautet. Ein blondgelockter Junge fährt auf seinem Tretroller her­ein, aus dem Kopfhörer auf seinen Ohren dröhnt leise wie beim lästigen Sitznachbarn in der U-Bahn ein Discohit. Im Hintergrund ist die Tür eines alten Kleiderschranks zu erkennen. Der Junge legt den Kopfhörer ab, öffnet die Tür und holt eine Geige heraus. Er beginnt zu spielen, einsam erklingt eine sehnsüchtige, irgendwie jüdisch klingende Melodie. Ständig poltert und klopft irgendwas im Schrank. Der Junge schaut nach, und her­aus tritt Max Hopp, der Milchmann Tevje: „Wenn ich einmal reich wär …“

Einst stand hier das „Metropol“, Zentrum der jüdisch geprägten Unterhaltungskultur

Das singt Hopp jetzt noch nicht, aber mit ihm kann nichts mehr schiefgehen. Er kann tanzen, singen, schimpfen, lügen und verzeihen zugleich, alles eben, was des Dichters Scholem Alejchem alter Ego können muss. Zuerst muss er deshalb dem Jungen einmal ausführlich und lange erklären, wie das Leben ist als Fidler auf dem Dach, gefährlich nah am Abgrund. Aber im Dorf Anatevka irgendwo im Russland zum Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es Tradition. Jüdische Tradition. Auf der Drehbühne fährt ein wahres Trödelladen-Gebirge herein, aus Schränken, Kommoden und Regalen über und nebeneinander aufgebaut, aus denen nun das komplette Schtetl herausquillt, großer Chor, Tanz­ensemble, Schneider, Metzger, Töchter und Heiratsvermittlerin mittendrin. Auch Dagmar Manzel. Sie ist nur die Frau des Milchmanns, daher keine Hauptrolle, aber Manzel ganz und gar.

Es ist ein Fest großer Theaterkunst, das Kosky aus dem genialen Bühnenbild ausrangierter Schränke von Rufus Didwiszus zaubert. Alles stimmt, noch die wildesten Tänze sitzen genau, die jiddischen Sätze auch. Die kleine Welt, die schon an der neuen Zeit zu zerbrechen beginnt, kehrt noch einmal zurück. Es darf darin auch mal sentimental werden. Und wenn Tevje mit Frau, Töchtern und Gott streitet, macht Hopp menschlichen Humor daraus. „Hättest du nicht wenigstens einmal ein anderes Volk auserwählen können?“

Und dann „Wenn ich einmal reich wär“? Es war ein reiches Leben! Aber nach der Pause ist es vorbei. Es schneit, Pogrome vertreiben die Juden aus Anatevka. Sie packen ihre Habseligkeiten aus den Schränken zusammen, marschieren über den Theaterschnee der leeren Bühne auf den nebelverhangenen Waldrand im Hintergrund zu. Einsam spielt der Junge sein Lied auf der Geige zu Ende. Auf solche Bilder intensiver Trauer wollte Kosky gerade jetzt nicht verzichten. Er ließ am Ende eine riesige Geburtstagstorte auf die Bühne fahren. Das Anatevka der Juden ist dennoch für immer verloren, und man ist am Ende ganz froh, dass mit Bundespräsidenten wie Frank-Walter Steinmeier das vielleicht doch nie mehr vergessen wird.

Weitere Vorstellungen am 5., 6., 27. und 31. 12.

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