: Ein Roboter in kahlen Fluren
Das Arsenal zeigt zwei Filme von Haroun Farocki: „Aufschub“ (2008) und „Erkennen und Verfolgen“ (2003) – als dritten Teil der Farocki-Retrospektive „Nacheinander/Nebeneinander“ drei Jahre nach dessen Tod
Von Peter Nau
Das Schlimmste am KZ Westerbork in Holland war, so heißt es einmal in Haroun Farockis Film „Aufschub“, dass es ein Durchgangslager war. Das Besondere ist, dass in dem Lager nicht geschlagen und gefoltert wurde. Kein Insasse wurde hier ermordet, aber wöchentlich gab es Transporte in die Vernichtungslager des Ostens. Stumme Filmaufnahmen, die das Lagerleben und die Abfahrt eines der Deportationszüge festhalten, wurden 1944 von Rudolf Breslauer, einem Häftling, im Auftrag der Lagerleitung gedreht; auch für ihn war dies nur ein Aufschub, danach wurde er in Auschwitz ermordet. Er hatte seinen (nicht fertiggeschnittenen) Film für Besucher des Lagers gemacht. Also eigentlich für niemanden.
In einer Zeit (dem Informationszeitalter), in der uns keine Begebenheit mehr erreicht, die nicht mit Erklärungen schon durchsetzt wäre, hat Harun Farocki sich dieses Filmmaterials angenommen, nicht um es „durch den Fleischwolf der Education zu drehen“, sondern um es selbst sprechen zu lassen. Was ins Leben jenes Mannes mit der Kamera, Rudolf Breslauers, eingesenkt war, holt er wieder aus ihm hervor. Mit seinen erläuternden, kommentierenden Zwischentiteln (Farocki tastet die Stummheit des Originalfilms nicht an) ist ihm etwas in seiner Art ganz Einmaliges geglückt: jenes langsame Einander-Überdecken dünner und transparenter Schichten, durch welches im Bereich der Literatur die vollkommene Erzählung aus der Schichtung vielfacher Nacherzählungen an den Tag tritt.
Die dokumentarischen Aufnahmen, deren Intensität als Einzelbilder Farockis Film – dank der Unterbrechungen durch die Schrifttafeln – in sich bewahrt, sind nach ihrer Logik und Erscheinung der von Traum und Schatten verwandt. Aber: „Es war kein Traum“ (Kafka, „Die Verwandlung“). Für Rudolf Breslauer hatte das Filmen im KZ Westerbork dieselbe Bedeutung, wie sie die Epik im Munde Scheherazades hat: das Kommende hinauszuschieben.
Was in „Erkennen und Verfolgen geschieht, könnte auch „Nach Weltuntergang“ heißen, hat man doch den Eindruck, dass die Welt bereits verloren ist. Dabei lässt Farocki im Prinzip einfach nur Lehr- und Werbefilme aus der Automobilbranche und der Rüstungsindustrie für sich sprechen: „operative“ Bilder, die sich zu den Bildern aus geläufigen Filmen wie Lastpferde zu Reitpferden verhalten. Und doch hat „Erkennen und Verfolgen“ – dessen Titelheld ein durch kahle Flure sich zielgerichtet fortbewegender Roboter ist, der ein Türschild lesen und seinen Zielort selbst suchen kann – viel von einem rassigen Rennpferd und nichts von einem schwerfälligen Ackergaul.
Unter dem Eindruck der Regression westlicher Zivilisation in ihr Gegenteil, die man in Anspielung auf Heidegger nur als das „nichtende Nichts“ begreifen kann, lässt Farocki eine geradezu musikalische, durch die Kommentarstimme präzis akzentuierte Bilderfolge sich technisch immer mehr vervollkommnender Produktions- und Zerstörungsabläufe Revue passieren. Das in den Marschflugkörper als Silhouette einprogrammierte Ziel ist wie ein vorgefasster Begriff, der mit dem Realen zur Deckung zu kommen strebt.
Zwar sieht Farocki sich durch seine zitierende Methode genötigt, dem schönen Schein, den beschwörenden magischen Momenten in den verwendeten Instruktionsfilmen Zugeständnisse zu machen, aber gleichzeitig zersetzt er deren Sprach- und Darstellungsformen durch das Konzept seiner grundsätzlichen Negativität. Da das Ganze zum Verhängnis geworden ist, dem nichts und niemand entkommen kann, bleibt nur die flüchtige Substanz seines reflektierenden, spielerisch anmutenden Films: Erkennen und Verfolgen, im humanen Zusammenhang von Wissen und Handeln.
Arsenal, Potsdamer Straße 2, 28. 11., 19 Uhr („Erkennen und Verfolgen“), 21 Uhr („Aufschub“)
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