piwik no script img

Wenn nicht mehr viel Zeit bleibt

Im Kinosessel um die Welt reisen: Im Festival „Around the World in 14 Films“ wechselt mit jedem Film der Schauplatz, man schaut nach China, in den Iran, begleitet Bäuerinnen, Cowboys und Eigenbrötler

Von Fabian Tietke

Fang Xiuying verbrachte ein ganzes Leben in dem Dorf Maihui in der chinesischen Provinz Zhejiang. Als Bäuerin und Mutter zweier Kinder lebte Frau Fang 68 Jahre in dem Dorf, bis sie am 6. Juli 2016 starb. Der chinesische Dokumentarfilmer „Wang Bing“ lernte die Tochter von Fang Xiu­ying während Dreharbeiten kennen, später auch die Familie. Andere Filmprojekte folgten, bis er im Juni 2016 den Anruf erhielt, dass Frau Fang sehr krank sei und wenn er noch einen Film über sie drehen wollte, dann jetzt. Es blieben sieben Tage bis zu Frau Fangs Tod.

Schweigsame Beobachtung

„Mrs Fang“ begleitet die Prota­gonistin in den letzten Tagen ihres Lebens. Von der lebendigen, schweigsamen Frau, die in einigen kurzen Einstellungen zu Beginn des Films zu sehen ist, ist nicht mehr viel übrig. Frau Fang kann nicht mehr sprechen, ist stark abgemagert und kann sich eben noch mit Mühe im Bett umdrehen, um den wundgelegenen Rücken etwas zu entlasten. Bei ihren Besuchen analysieren Familie und Nachbarn jedes Detail, das sich verändert hat: die Lage, ein übers Gesicht huschendes Lächeln.

Wang Bing nähert sich seiner Protagonistin in zurückhaltenden, schweigend beobachtenden Bildern. „Mrs Fang“ fügt sich ein in Wang Bings beeindruckend produktives Werk als Dokumentarfilmer und ist wie viele frühere Filme durchzogen von der Spannung zwischen der Darstellung des Individuums und einer Bestandsaufnahme der chinesischen Gesellschaft im Umbruch.

„Mrs Fang“ ist einer der Filme, die „Around the World in 14 Films“ aus dem diesjährigen Festivaljahrgang ausgewählt hat und in Berlin auf die ­Leinwand bringt. In den zwölf Jahren seines Bestehens hat sich das Festival zu einem festen Bestandteil der vielfältigen Berliner Festivallandschaft entwickelt. Die Auswahl ist Blick zurück auf das Festivaljahr 2017 und zugleich Blick voraus auf das Kinojahr 2018 bei jenen Filmen, die einen Verleih gefunden haben.

Windmühlen der Bürokratie

Die Auswahl ist wieder vielversprechend: Große Namen des Kinos der Welt wie Hong Sang Soo und Sergei Loznitsa stehen neben unbekannteren. Jonas Carpignano, der vor zwei Jahren mit „Mediterranea“ Aufsehen erregte, erzählt in seinem zweiten Spielfilm vom Leben des 14-jährigen Pio in der süditalienischen Küstenstadt Ciambra. Der portugiesische Regisseur Pedro Pinho verwandelt in „The Nothing Factory“ die Geschichte einer Fabrikbesetzung in einen Galopp durch die Genres und Zuschauererwartungen.

Der Rückzug aufs Land scheint gelungen, bis die Religionspolizei ein Gewehr bei Reza findet

Der iranische Regisseur Mohammad Rasulof beweist mit seinem neusten Film, „A Man of Integrity“, dass sich das iranische Kino in den letzten Jahren zu einem der weltweit interessantesten entwickelt hat. Im Mittelpunkt von Rasulofs Film steht der Kampf gegen die Windmühlen von Korruption und Bürokratie im Iran. Auf der Flucht davor ist Reza aufs Land gezogen und hat begonnen, Fische zu züchten. Seine Frau arbeitet als Lehrerin in der örtlichen Schule. Der Rückzug scheint gelungen, bis die Religionspolizei ein Gewehr bei Reza findet, dessen Waffenschein jedoch abgelaufen ist. Weil Reza sich stur weigert, das Spiel aus aufgeblasenen Problemen mitzuspielen und Schmiergeld zu zahlen, wachsen die Probleme.

Das steigert sich noch, als Reza sich mit einer Firma in seiner Nachbarschaft über den Wasserzufluss zu streiten beginnt: Reza wird inhaftiert, und seine Frau muss eine Flut von Behördengängen über sich ergehen lassen, bis ihr Bruder die Inhaftierung kurzerhand mit einer Bestechung beendet. Kaum sind Reza und seine Frau wieder zu Hause, finden sie die Fische tot im Wasser treibend.

Ergänzt wird das Kernprogramm des Festivals durch einige Abende, die sich der Filmproduktion bestimmter Länder widmen, sowie eine Podiumsdiskussion über Fluch und Segen der Digitalisierung für den Arthouse-Film.

Barbara Alberts Film „Licht“ wird auf dem deutsch-österreichischen Abend in einer Preview gezeigt. John Carroll Lynch und Chloé Zhao halten in zwei Programmen die Fahne des US-amerikanischen Independent-Films hoch: Lynch zeigt den jüngst verstorbenen Harry Dean Stanton in seiner letzten Rolle als leicht verschrobenen 90-Jährigem, der sich in die Wüste Arizonas zurückgezogen hat; Zhao folgt einem jungen Cowboy nach einem Unfall beim Rodeo. Auch in diesem Jahr lohnt sich die filmische Reise um die Welt.

Around the World in 14 Films, 23. 11.–2. 12. 2017 Kino in der KulturBrauerei

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen