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Deutschland in einem Zug

Brodeln unter der Oberfläche: Thomas Medicus stellte im Literaturhaus sein Reportagebuch „Nach der Idylle“ vor

Von Benjamin Trilling

Zugabteile können Welten eröffnen. Da steigt wer hinzu. Es folgen weitere PendlerInnen. Und wenn der Wagen voll ist, dann ist Schweigen keine Alternative. Öde Smalltalks können sich da schnell zu brisanten Kontroversen entzünden.

Thomas Medicus weiß das. Denn für sein Ende September erschienenes Buch „Nach der Idylle. Reportage aus einem verunsicherten Land“ ist er quer durch Deutschland gereist. Vom Tegernsee nach Flensburg, von Görlitz nach Aachen. Drei Regeln hat sich der Autor und Journalist dafür selbst auferlegt: kein Auto, kein Flugzeug, immer den Zug nehmen.

„Ich wollte mich einfach der sozialen Realität aussetzen“, sagt Medicus im Literaturhaus, wo er Ausschnitte aus seiner literarischen Recherche liest. Situationen und Gespräche suchen, die einen ungefilterten Einblick in die Stimmung in diesem Land erlauben, so die Idee des Deutschland-Buches. Zugreisen als Gesellschaftsausschnitt.

Von den Beobachtungen, die er dabei machte, erzählt Medicus an diesem Mittwochabend auch im Gespräch mit Moderator Lothar Müller. Etwa von einer alten und einer jungen Frau. Beide streiten sich lautstark im Wagen. Es geht um Fremde, die ins Land eindringen. „Sie schlugen regelrecht mit Worten aufeinander ein.“

Diese angeheizte Stimmung war der Ausgangspunkt von Medicus’ Projekt. September 2015, die Bundesregierung erlaubt Tausenden Geflüchteten die Einreise nach Deutschland. Neben einer Willkommenskultur gibt es auch fremdenfeindliche Ressentiments. Im Land, das als Bollwerk der liberalen Demokratie und des wirtschaftlichen Wohlstands in Europa angesehen wird, scheint es zu brodeln.

„Wer ist dieser Deutschland?“, so lautet ein Graffiti-Schriftzug, der Medicus in einer Nebenstraße irgendwo in Charlottenburg ins Auge springt. Nur ein grammatikalischer Scherz? Für Medicus ist es jedenfalls die Ausgangsfrage seiner Recherche, für die er die Metropolen verlässt. „Nach der Idylle“ ist eine literarisch-journalistische Expedition in die Provinz. Und Reisereportagen als Stimmungs­barometer verkaufen sich aktuell nicht schlecht auf dem Büchermarkt.

Daran knüpft auch Medicus an. Aber er spinnt auch eine Art Fortsetzungsgeschichte zu seinem erzählenden Sachbuch „Heimat. Eine Suche“, in der sich der gebürtige Mittelfranke in seine Herkunftsregion begibt, um die NS-Vergangenheit des Vaters und Großvaters aufzudecken. Auch sein neues Buch ist eine Spurensuche in die Provinz, erneut eine Ansammlung vieler Porträts. Da ist ein VW-Mitarbeiter, der über die Zukunft der Autoindustrie munkelt, eine „Wedding-Agentur“-Betreiberin, die romantische Hochzeiten plant, oder eine Familienkleinunternehmerin, die vor der Globalisierung einknickt.

Sie alle spiegeln die gesellschaftlichen Umbrüche in persönlichen Geschichten wider. Eine Tiefenbohrung, die eine verunsicherte Gesellschaft freilegt, die Ungewissheit und Orientierungslosigkeit. Oder die Angst, Dinge zu verlieren: den Wohlstand, Traditio­nen, Jobs. Was dagegen sicher verschwinden wird, das plant die Deutsche Bahn und das betrauert auch der Autor an diesem Abend, sind die bisherigen Zugabteile.

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