heute in hamburg
: „Es gibt kein außerhalb des Westens mehr“

Foto: Jannik Veenhuis

Jannik Veenhuis, 30, Islamwissenschaftler, engagiert sich in der Initiative Liqa für den Austausch zwischen jungen Menschen in der arabischen Welt und Deutschland.

taz: Herr Veenhuis, stimmt das mediale Bild des Orients?

Jannik Veenhuis: Nein, sicherlich nicht. Wir haben einen Orient konstruiert, der in unser Welt- und Selbstbild passt. Er ist genau das Gegenteil dessen, was wir gerne sein wollen. Wenn wir aufgeklärt und rational sind, ist der konstruierter Orient traditionell, religiös, emotional. Diese Vorurteile werden durch neokoloniale Machtverhältnisse weltweit reproduziert.

Was ist das für eine Ordnung?

Der Begriff beschreibt die Kontinuität der Abhängigkeiten zwischen ehemaligen Kolonien und Mutterländern. Die Ausbeutung, vor allem die wirtschaftliche, setzt sich fort, etwa in der Entwicklung vom Kolonialherrn zum Entwicklungshelfer. Sie wollen das Image des Helfers, aber wirklich helfen wollen sie nicht.

Ist Deutschland mit seinen wenigen Kolonien auch betroffen?

Letztlich ist nicht so relevant, wie viele Kolonien ein Land hatte; es geht um das System an sich. Kolonialismus und Kapitalismus sind ohne einander nicht zu verstehen. Die deutsche Gesellschaft ist genauso wie die französische oder britische Profiteurin dieses Systems.

Was lässt sich dagegen tun?

Natürlich kann man in Aufklärungsverstaltungen darüber reden, um den öffentlichen Diskurs infrage zu stellen. Ein wichtiger Bestandteil ist aber auch, sich selbst als Wissenschaftler zu reflektieren: Wie produzieren wir Wissen? Ist unsere Wahrnehmung vorgeprägt? Sind wir wirklich so objektiv, wie wir es gerne sein würden? Wir brauchen nicht einfach ein neues Bild des Orients, das auf den gleichen Wahrnehmungsmechanismen beruht. Wir müssen überlegen, warum und wie wir das produzieren, dabei können die Ideen des Postkolonialismus hilfreich sein.

Inwiefern?

Post-Kolonialismus ist hier nicht im Sinne von nach zu verstehen, sondern im Sinne von weiter: Welchen Einfluss haben koloniale Strukturen noch heute? Und das nicht nur auf einer materiellen Ebene, sondern auch auf einer immateriellen, wo Kultur und Identität mit berücksichtigt werden.

Was heißt das konkret?

Es gibt kein außerhalb des Westens mehr, sagen manche Theoretiker. Alles ist westlich bestimmt: das Wirtschaftssystem durch kapitalistische Abhängigkeiten, aber auch die Kultur und die Identität. Auch wenn ich nicht westlich sein will, ist das bereits eine Referenz auf den Westen und ich reproduziere die Dualität.

Interview Adèle Cailleteau

Vortrag und Diskussion über Postkolonialismus mit Jannik Veenhuis: 18:30 Uhr, T-Stube, Allende-Platz 1