: Tod eines Handlungsreisenden
Union-Fans sind eine Schicksalsgemeinschaft. Nicht immer macht es die Dazugehörenden glücklich dazuzugehören. Im diese Woche erscheinenden Buch „Alles auf Rot“ schreiben prominente Fans über den Mythos 1. FC Union. Hier vorab der Beitrag eines taz-Autors
Von Uli Hannemann
Das Hinspiel meiner Eintracht hatte ich im Dezember in der Alten Försterei verfolgt. Union hatte erschreckend leichtes Spiel gehabt. Kurz vor Schluss – es stand zwei zu null – huben neben mir zwei anachronistische Kuttenträger in Rotweiß wie, am Spieß zu schreien an: „Ihr Fotzen! Ihr scheiß Braunschweiger Fotzen!“ Da das Spiel entschieden war und wir über dem Gästesitzplatzbereich mit harmlosen Normalos und auch vielen Frauen standen, erschloss sich mir das hinter den Ausfällen stehende Konzept nicht die Bohne. Ich ärgerte mich. Aber vielleicht lag ja genau darin das Konzept.
Nun ist es Mai geworden. Von Berlin aus fahre ich zum Rückspiel. Wegen Streckenbauarbeiten muss man in Wolfsburg umsteigen. Es sind kaum Unioner im Zug und noch weniger Exil-Braunschweiger. Die meisten sind früher los, man will ja in Ruhe vorglühen. Denn gut möglich, dass Frust droht, im Falle eines Remis sogar für beide. So sind die Voraussetzungen kurz vor Saisonende.
Am Donnerstag, 9. 11., erscheint das Buch „Alles auf Rot. Der 1. FC Union Berlin“ im Blumenbar-Verlag. Über den Mythos um den Köpenicker Verein schreiben darin unter anderem taz-AutorInnen wie Uli Hannemann und Gunnar Leue, der Sportjournalist Christoph Biermann und der Schriftsteller Imran Ayata.
Die Buchpremiere am 15. 11. im Berliner Ensemble ist bereits ausverkauft, weitere Lesungen finden u. a. am 19. 11. im Kino Union in Friedrichshagen und am 29. 11. in der Eisern Lounge im Stadion an der Alten Försterei statt.
„Alles auf Rot. Der 1. FC Union Berlin“, 240 Seiten, 18 Euro
Umstieg in die Nebenbahn, quer durch das wüste Herz von Mittelerde. Ruhan. Gondor. Veddel. Braunschweig. In der Straßenbahn zum Stadion komme ich in einer gemischten Gruppe aus älteren Braunschweigern und Berlinern zu sitzen, die eine Art freundliche Verzagtheit eint. Man kommt schnell ins Gespräch. Der Unioner ist als Städter naturgemäß redseliger als die maulfaulen Bauern. Er erzählt vom Krieg. Wie der Prager Frühling nach dem Gewinn des FDGB-Pokals den ersten Europapokalauftritt der Eisernen verhinderte. Später dann Valkeakoski und Litex Lowetsch. Das eine klingt nach Ikea, das andere nach Hagebaumarkt.
Wie betäubt lauscht der ganze Hänger dem historischen Diskurs, dem nun private Elemente beigemengt werden: Er müsse leider schon Mitte der zweiten Halbzeit abhauen, um anderntags um sechs Uhr früh daheim die Kinder zu wecken. Der wegen der Gleisarbeiten gestrichene Spätzug macht das Opfer nötig. Ganz ruhig sagt er das, fast fröhlich – ich an seiner Stelle würde ja im Strahl kotzen.
Drei Stationen vor dem Stadion drücke ich mich aus der pickevollen Bahn. „Ich dachte, du fährst zum Spiel“, sagt der nette Unioner und ich antworte, „ja, später dann schon“, und verschweige, warum ich hier aussteige, um ihn nicht neidisch und traurig zu machen. 0 Kinder = 1. Halbzeit + 2. Halbzeit + 3. Halbzeit; so lautet die Gleichung des posturbanen Freibeuters. Doch nichts ist umsonst: Ich werde einsam und unbeweint sterben.
Weitaus schwerwiegender jedoch, werde ich das erste Mal in meinem Leben in einem Hotel übernachten, das im Trip-Advisor gerade mal fünf Punkte hat. An der Rezeption, auf den Gängen Unioner. Ältere und auch hippe. Die haben wohl keine Kinder oder sie sind ihnen egal. Egal für Union. Zuhause macht Mutti schon mal die Scheidungspapiere fertig. Die Stimmung der Schlachtenbummler wirkt gedämpft. Sie erwecken nicht den Eindruck, als fieberten sie auf die entscheidende Begegnung der Saison hin. Ich weiß nicht, woher ihre Zurückhaltung rührt, ob von den zuletzt gesunkenen Aufstiegschancen, oder daher, dass sie so eine abscheuliche Butze noch nicht von innen gesehen haben. Gemeinschaftsbad. Frühstück für vier Euro im Souterrain. Aber eine Nacht kann man hier schon überstehen. Vielmehr der Sieger kann. Den Verlierer der Partie aber wird in dieser Umgebung ein derart allumfassender Jammer ergreifen, dass er sich wünschen wird, niemals geboren zu sein. Die Zimmer stinken. Ich öffne das Fenster und mache mich auf dem Weg zum Stadion. Das Spiel. Haste eins gesehen, haste alle gesehen. Auch möchte ich die Unionseele nicht über Gebühr strapazieren. Nur so viel vielleicht noch: Nach dem Tor zum drei zu eins fällt mir ein, dass der Köpenicker Kindsvater spätestens jetzt zum Bahnhof muss. Veddel, Gondor, Ruhan, Wolfsburg. Und dass er sich damit möglicherweise weiteres Leid erspart.
Das Siegesgefühl katapultiert mich am nächsten Morgen denn auch aus dem Stinkebett heraus und via Siffdusche hinunter in den klammen Frühstücksraum. Den genießbarsten Eindruck machen hier noch die wie Opfer eines Terroranschlags unter einem langen Tuch verborgenen, etwa fünfzig hartgekochten Eier. Die Unioner von gestern sind schon weg, allenfalls die vier dort in der Ecke könnten vielleicht Fans sein. Tiefliegende Augen, dunkle Bartstoppeln, stumpfer Blick: Wie alle Gesichter hier unten künden sie von einem harten Weg abwärts, dessen Ende längst nicht erreicht ist. Apathisch mümmeln sie den minderwertigen Fraß – ihr Elend dauert mich. Ob im Fußball oder im Leben – ich bin ein großzügiger Sieger, der auch in der Stunde des Triumphs stets mit dem Verlierer fühlt. Ich möchte mich in die Mitte des Raumes stellen und die Stimme erheben.
„Freunde. Unioner. Handlungsreisende. Kleinkriminelle. Versager. Gestrauchelte und Gestürzte. Warum auch immer wir hier sind: Jeder von uns hat sich sein Leben sicher anders vorgestellt. Mehr Saus, mehr Braus, mehr Punkte; ein Hotel, das nicht stinkt; ein Zimmer mit eigener Dusche; ein Lachsfrühstück in weichen Sesseln; eine schöne Frau, brave Kinder und einen klugen Hund. Doch jetzt sind wir hier. Ganz unten. Im WÜRGOTEL BS-Nordstadt. Nun möchte mancher, des Kampfes müde, verständlicherweise verzweifeln. Aufgeben, loslassen, für immer schlafen. Zweite Liga, dritte Liga, scheißegal. Doch, liebe Gefährten der Ebene, irgendwo brennt immer noch ein kleines Licht. Es ist genau dieser Funken, den wir tief in uns suchen müssen. Und wenn wir ihn gefunden haben, fachen wir ihn mit den wenigen verbliebenen Scheiten unseres ersterbenden Willens an, bis das Feuer wieder mit so mächtiger Flamme brennt, dass es selbst diesen lebensfeindlichen Frühstücksraum zu erwärmen vermag …“
Ich behalte meine Worte am Ende doch für mich. Die armen Menschen könnten sie als Spott missverstehen und sich ein allerletztes Mal in ihrer Agonie aufbäumen: „Ihr scheiß Braunschweiger Fotzen.“ Ich will mich aber nicht ärgern. Stattdessen hole ich mir lieber noch ein hartgekochtes Ei.
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