Theaterstück zur Oktoberrevolution: Was von Lenin übrigblieb
An der Schaubühne Berlin stellt Milo Rau in „Lenin“ große philosophische und historische Fragen nach den Fehlern der Geschichte.
Gegen Ende sitzt Ursina Lardi, kaum zu erkennen unter der Halbglatze und mit Lenins Spitzbart, vor dem Schminktisch am Bühnenrand, an dem sie im Lauf des Abends Strich für Strich von der schönen Blondine in den todkranken Gründer der Sowjetunion verwandelt wurde.
Neben ihr steht, in historischem Kostüm, Kay Bartholomäus Schulze als Lenins Leibarzt und beschreibt ihn nach einem erneuten Schlaganfall: „Der Kopf lag auf seiner Schulter, die Augen waren weit aufgerissen und versuchten, panisch zu begreifen. Der Mundwinkel hing schief in seinem Gesicht, Speichel lief übers Kinn.“ Lardi schaut in den Spiegel und in die Kamera dahinter und gehorcht: legt den Kopf auf die Schulter, reißt die Augen auf, sabbert auf den Pyjama.
Hier sind sie alle beisammen, die Erzählebenen, die der Regisseur Milo Rau in seinem „Lenin“ in der Schaubühne auszubalancieren versucht: Lardi als Schauspielerin von heute – und Lardi als Lenin 1923; das Spiel in der naturalistisch möblierten Datscha auf der Bühne – und das Aussteigen aus diesem Spiel am Schminktisch; der Blick auf das Landhaus auf der Drehbühne, von Kameras umkreist – und der Blick nach oben, auf die Leinwand, die aus der bloßen Kulisse einen halb verkitschten Historienfilm mit schmerzverzerrten Gesichtern in Nahaufnahme macht.
Milo Rau, hoch gehandelter Schweizer Regisseur, bewegt sich damit weg von den „Reenactments“, die sein Markenzeichen geworden sind. Hier spielen nicht, wie zuletzt in der ausgezeichneten Produktion „Five Easy Pieces“, Kinder das Leben des belgischen Kindermörders Marc Dutroux nach. Hier wird auch kein Gerichtshof aufgebaut, mit Zeitzeugen und Angeklagten, wie Rau das beim „Kongo Tribunal“ oder den „Moskauer Prozessen“ getan hat, um gesellschaftliche Verantwortung zu verhandeln.
Das Stück „Lenin“ hat Milo Rau zusammen mit dem Ensemble der Schauspieler entwickelt.
Weitere Aufführungen am 23. + 24. Oktober; 4./5./16./17./18./19. November in der Schaubühne. Mehr unter www.schaubuehne.de
„Warum tötet der einfache Mann?“
„Lenin“ ist kein Reenactment realer Ereignisse der Oktoberrevolution 1917, deren „Jubiläum“ gerade ein großes Thema ist. Sondern Rau hat einen stark verdichteten Text entwickelt, der den Revolutionsführer sechs Jahre später, krank und politisch isoliert, in seinem Landhaus imaginiert. Umgeben von seinen Getreuen: Arzt, Ehefrau, Sekretärin, Köchin, Soldat. Zu Besuch kommen der feiste Stalin und ein gemütlich wienernder Trotzki; außerdem der beflissene Kulturminister und ein Protokollchef, den Lukas Turtur als Inbegriff des dumpfen Sadisten gibt.
Mit ihnen hat Rau das Personal, um die großen Fragen hinter der Revolution zu stellen: Rechtfertigt der Kampf für eine gerechte Gesellschaft Hunderte Tote? Oder Hunderttausende? Millionen? Warum schlägt die berechtigte Rebellion stets um in brutales Morden? Und, wie Lenin hier im Delirium fragt: „Warum tötet der einfache Mann?“ Was bleibt vom Umsturz, wenn die Helden sterben und die Opportunisten nachrücken? Ähnliche Fragen, wie sie Georg Büchner in „Dantons Tod“ bohrend stellt. Lenin und Stalin sind bei Rau Antagonisten wie Danton und Robespierre in der Französischen Revolution.
Ein desillusionierter Sterbender
Das Russland von 1917 tastet Rau nach vielen Seiten ab: Iris Becher erzählt als graumäusige Sekretärin, wie aus diesem Durchschnittsmann der Hoffnungsträger Lenin wurde; Felix Römers grantelnder Trotzki entlarvt Stalin als plumpen Machtgeilen. Lenin selbst ist bei Lardi so feinnervig wie zynisch, ein desillusionierter Sterbender, der voller Lebensekel nach dem Sinn des Mordens fragt – und, kaum tot, von den neuen Machthabern politisch instrumentalisiert wird.
So schwergewichtig das inhaltlich ist – die Ästhetik des Abends irritiert doch sehr. Für heutige Zuschauergewohnheiten ist es eine Herausforderung, das naturalistische Spiel durchweg ernst zu nehmen. Die plausiblen Brechungen per Leinwand und Schminktisch bewirken immer wieder eine unfreiwillige Komik: Warum soll man sich in diesen Lenin einfühlen, der kotzend über der Kloschüssel hängt, der zuckend und röchelnd auf dem Boden liegt – wenn zugleich so dezidiert gezeigt wird, dass hier eine Ursina Lardi den großen Führer nur spielt?
Diese Irritation stößt eine Grundfrage im Theater an: Wie kann Historie auf der Bühne heute überhaupt dargestellt werden? Als postdramatischer Theoriediskurs? Als Kostümdrama? Gibt es etwas dazwischen?
Milo Rau hat es zumindest versucht: Historie bühnentauglich zu veranschaulichen – er lässt sich auf die großen Fragen der Weltgeschichte ein. Das jedenfalls kann man heute nicht von vielen Theatermachern sagen.
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