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Die schwierige Erinnerung In Lenins Heimatstadt sucht man nach einem brauchbaren Umgang mit dem Revolutionär

Aus Uljanowsk Klaus-Helge Donath

Die Tür fällt knirschend zurück ins Schloss. Ewigkeiten vergehen, bis sich aus der Tiefe des Raumes eine Stimme meldet: „Wohin?“, fragt sie. Es ist eine ältere Frau, die im Haus der Uljanows an diesem Morgen den Ton angibt. Im ersten Stock dieses Hauses kam im April 1870 Wladimir Uljanow zur Welt, der drei Jahrzehnte später das Pseudonym Lenin annahm. Das Haus der Familie, der der Gründer der Sowjetunion entstammt, ist schon lange ein Museum.

Mit der Eintrittskarte überreicht die Wachhabende noch eine Broschüre: „Das Drama Lenins am Ausgang des 20. Jahrhunderts“. Drucklegung März 1992 auf holzigem Papier. Die Nachfrage scheint sich in Grenzen zu halten. Ein Vierteljahrhundert später gibt es immer noch Exemplare.

Das Geburtshaus des Revolutionsführers ist in einen riesigen Gedenkkomplex, dem „Lenin-Memorial“, über der Wolga eingebettet. 1970 zum 100. Geburtstag des Chefbolschewiken wurde das weitläufige Areal eingeweiht. Das Lenin-Memorial aus 133.000 Kubikmetern Beton und weißem Marmor scheint das schmächtige Wohnhaus aus dem 19. Jahrhundert zu erdrücken. Architektonisch ein Frevel.

Wladimir Uljanow wurde in bescheidenen Verhältnissen groß. Der einzige Luxus waren Bücher. Neben dem Wöchnerinnenbett von Mutter Maria liegen Werke von Victor Hugo, Heine und Shakespeare, jeweils in der Originalsprache.

Das Museum ist leer an diesem Morgen. Nur Lydia, eine Künstlerin, fertigt Skizzen an. Sie hat die Kunsthochschule absolviert und stammt aus Uljanowsk. Lenin ist für sie so etwas wie ein weitläufiger Verwandter. Was denn in Deutschland über Lenin gedacht wird, fragt sie. In Russland habe Lenin es in letzter Zeit ja schwer, sagt sie. „Seien Sie vorsichtig, Lydia! Jedes Wort will überlegt sein! Der Besucher ist keiner von uns. Er kommt von dort“, warnt die ältere Frau von unten, die unser Gespräch mitangehört hat. „Von dort“ bedeutete in sowjetischer Zeit „kaplag“, kapitalistisches Lager. Die Einmischung verschlägt Lydia die Sprache. Sie verstummt.

Das Lenindenkmal verfällt, Marmorplatten lösen sich

Der Kreml tut sich schwer mit Revolution und Lenins Erbe. Zum Leidwesen der Stadt Uljanowsk. 1924 – ein halbes Jahr nach Lenins Tod – nahm das frühere Simbirsk den Namen der Familie als Stadtnamen an. Delegationen kommunistischer Bruderparteien pilgerten seither an die mittlere Wolga. Doch nun, in Putins Russland, ist der berühmteste Sohn der Stadt nicht mehr präsentabel. Der Kreml würde den Aufrührer am liebsten aus den Annalen streichen.

Der einstige Übermensch erscheint heute eher als Verräter, der sich im Krieg mit dem Feind, dem deutschen Kaiserreich, einließ. Und im Frieden von Brest-Litowsk 1918 auf russischen Boden verzichtete. Das passt nicht zum Patriotismus der Ära Putin.

Auch der Verfall des Denkmalkomplexes verrät gesunkene Wertschätzung. Marmorplatten lösen sich aus der Deckenverschalung des Lenin-Museums. Auch im Jubiläumsjahr macht Moskau kein Geld für die Sanierung locker. Die baufälligen Teile sind aus Sicherheitsgründen einfach abgesperrt.

Das Gymnasium, auf dem Lenin 1887 Abitur machte, dient noch immer als Schule. Im Foyer steht eine gewaltige Büste des Staatsgründers. Und ein Slogan des Musterschülers Wladimir Uljanow: „Lernen, lernen, lernen“. Anleitungen zum Umsturz fehlen selbstverständlich.

Außer der Gedenkstätte befindet sich noch das „museale Naturschutzgebiet Wladimir Iljitsch Lenin“ im Stadtzentrum. Irina Kotowa leitet diese Geschichtslandschaft: 44 Hektar Historie mit 17 Museen, die das 19. Jahrhundert wiederauferstehen lassen. Alltagsleben in allen Schattierungen, politisch unverfänglich. Kotowa bemüht sich, das Jubiläum „behutsam zu gestalten“. Schließlich soll der Jahrestag „mit dem versöhnen, was war“, sagt sie.

Die Direktorin verurteilt den Kommunismus nicht. „Ich habe mich auch als Komsomolzin wohlgefühlt“, so die Mittvierzigerin. Sie erinnert sich gerne an Geschichten über „deduschka Lenin“, den Großvater Lenin, aus der Feder „anspruchsvoller Schriftsteller“. Keine Schundliteratur, darauf legt sie Wert.

Aber sie kennt auch die andere, repressive Seite. Eines Tages nahm ihre Großmutter die junge Irina mit in die Stadt und erzählte unter Tränen, wo früher Kirchen gestanden hätten. Dass sie gläubig war, hatte die Großmutter sogar vor der Familie geheimgehalten.

2017 sucht die Stadt Uljanowsk ein brauchbares Verhältnis zu ihrem Spross, irgendwo zwischen Verklärung und Distanz. Niemand kennt die schwierige Beziehung der Stadt zu Lenin besser als Waleri Perfilow. Er ist siebzig Jahre und stellvertretender Forschungsleiter der Gedenkeinrichtung. Seit 50 Jahren befasst er sich mit Lenin und ­Uljanowsk.

Waleri Perfilow ist ein Grandseigneur, wie man ihn in der russischen Provinz selten findet. Dunkelgrauer Nadelstreifenanzug, Halstuch statt Krawatte, zurückhaltende Eleganz.

2002 hat er Wladimir Putin spontan abgefangen und ins Museum gelotst, erzählt Perfilow lachend. Der Präsident war nur kurz in der Stadt, Lenin stand nicht auf dem Terminplan. Der Kremlchef nahm sich tatsächlich eine halbe Stunde Zeit. Wenn es um hochkarätige Revolutionäre geht, könne es keine Stadt mit Uljanowsk aufnehmen, sagte Putin damals.

Putin spielte damit auf den Sozialisten Alexander Kerenski an, der 1917 zeitweilig Chef der Regierung und Lenins Gegenspieler war. Nachdem er im Juli als Minister eine gescheiterte Militäroffensive angeordnet hatte, sank sein Stern. Im Oktober ergriff Lenin die Macht.

Lenin und Kerenski stammten beiden aus dem damaligen Simbirsk. Kerenskis Vater Fjodor war Direktor des heutigen Lenin-Gymnasiums, als Wladimir Uljanow dort zur Schule ging. Die beiden Väter kannten sich.

Doch im Memorial erinnert nichts an den Expremier. Material zu finden sei schwierig, so Perfilow. Zu Sowjetzeiten hat keiner Erinnerungen an Kerenski aufbewahrt, der damals als Verräter galt. So ähnelt die Arbeit des Museums dem mühseligen „Zusammenkleben zerrissener Fotos“, sagt der Vizechef der Gedenkstätte. Und Russland sei ein Meister im Umschreiben der Geschichte. „Unvorhersehbare Vergangenheit nennen wir das“, so Perfilow. Das Erbe werde achtlos zertrampelt, oft radikal getilgt.

Seit Jahren kämpft Perfilow um ein neues Konzept für die monumentale Gedenkstätte. Er träumt von einem „Museum der UdSSR“, in dem der Lenin-Komplex aufgehen soll. Der fertige Entwurf liegt seit vier Jahren in der Schublade. Doch bislang traut sich niemand an das Projekt heran.

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