Barbara Oertel über die Wahl einer Weißrussin zur ersten „Miss Rollstuhl“
: Kaum Chancen auf Teilhabe

Es ist kein Zufall, dass die Weißrussin Alexandra Schischikowa, die erste „Miss Rollstuhl“, mit dem Satz zitiert wird: „Kämpft gegen eure Ängste.“ Denn Angst vor Diskriminierung und Stigmatisierung müssen Menschen, die im neurussischen Sprachgebrauch als „Personen mit begrenzten Möglichkeiten“ bezeichnet werden, in vielen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wahrlich haben.

Noch bis vor wenigen Jahren waren RollstuhlfahrerInnen in der weißrussischen Hauptstadt Minsk im Straßenbild quasi unsichtbar. Sie wurden weggesperrt oder hatten mangels technischer Hilfsmittel und entsprechender Infrastruktur keine Chance, sichtbar zu werden. Auch wenn heute in Russland, der Ukraine und Georgien viel von Inklusion geredet wird, kann von gesellschaftlicher Teilhabe keine Rede sein. Barrierefreiheit? Fehlanzeige. Gravierende Defizite gibt es bei Förderprogrammen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung, die lediglich ver­waltet werden, in Waisenhäusern und Internaten vor sich hin vegetieren.

Doch es sind auch Fortschritte zu verzeichnen. So löste der Vorschlag eines russischen Abgeordneten, man solle Kinder mit Downsyndrom gleich nach der Geburt töten, zahlreiche inländische Proteste aus. In der georgischen Hafenstadt Batumi setzt sich eine Nichtregierungsorganisation erfolgreich für die Rechte von RollstuhlfahrerInnen ein.

So gesehen ist der Sieg Schischikowas ein positives Signal und könnte die Situation von behinderten Menschen in ihrer Heimat und den Nachbarstaaten verbesern. Aber es kann auch anders kommen.

Erinnert sei an die russische Teilnehmerin beim dies­jährigen ESC, die im Rollstuhl sitzt und von Kiew aus­geladen wurde. Julia Samoilowa wurde vom Putin-Regime für politische Zwecke instrumentalisiert. Sollte Weißrusslands Autokrat Alexander Lukaschenko auf ähnliche Ideen kommen, wäre, außer für Schischikowa, für Menschen mit ­Behinderung nichts ge­wonnen.

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