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Tune out, drop in!

WCMX Eigene Parasportarten gibt es inzwischen reichlich. Das recht neue Rollstuhl-Skaten stellt noch einmal eine ganz besondere Herausforderung dar. Angebote dafür gibt es nicht nur in Berlin

Von Alina Schwermer

Es kostet Überwindung, die Rampe runterzufahren. Es ist der Move, den sie beim Skaten „Drop In“ nennen, eine Bewegung, bei der man von oben in die Rampe fährt und einen Moment lang nach vorne kippt. Die Rollifahrer in der Skatehalle Berlin haben sich um die Rampe gruppiert. Einer steht jetzt oben, ringt um seine Fassung, schöpft Mut. Dann fährt er mit dem Rollstuhl die Rampe runter.

„WCMX kostet Überwindung“, sagt Rollifahrerin Anna Brinkmann, die hier gemeinsam mit einer Handvoll anderen Fahrern in der Skatehalle trainiert. „Man weiß, man kann aufs Maul fliegen. Aber die Angst wird weniger.“

WCMX, das steht für Wheelchair Motocross, angelehnt an BMX. Eine ziemlich neue Sportart, bei der sich Rollstuhlfahrer im Skatepark bewegen. Sie fahren Rampen runter, tricksen auf Stufen, und die völlig Verrückten machen im Rollstuhl auch Überschläge wie den Backflip. Auf Youtube kann man sich das angucken.

Ein bisschen zu bekloppt, meint Anna. „Bei solchen Videos ist meine Reaktion eher schmerzverzerrt. Ich bin echt risikofreudig, aber ich muss auch an meine Gesundheit denken.“

In der Skatehalle Berlin geht es moderater zu. Die Rollifahrer, die hier trainieren, haben gerade erst mit WCMX angefangen. Möglich wird das kostenlose Training, das alle zwei Wochen stattfindet, weil der Verein Drop In e. V. seit diesem Jahr Skaten für Rollstuhlfahrer unter „WCMX goes Berlin“ anbietet.

„WCMX ist cool, weil es ein wirklich inklusiver Sport ist“, sagt Inklusionspädagogin Linda Ritterhoff von Drop In e. V. „Man kann sogar Menschen mit Mehrfachbehinderungen eine Rampe runterschieben.“ Nur, wer im E-Rollstuhl sitzt, kann WCMX nicht betreiben. Ansonsten sind keine Grenzen gesetzt. „Im Moment ist es ein sehr offenes Format“, so Ritterhoff. „WCMX ist so neu, dass es noch gar nicht evaluiert ist. Es geht ums Ausprobieren.“

Skaten für Rollstuhlfahrer gibt es erst seit einigen Jahren. Entstanden ist es in den USA. Dort gibt es mittlerweile auch inklusive Skateparks. In Deutschland ist man längst noch nicht so weit, aber die Sportart entwickelt sich langsam.

Anna Brinkmann hat ihren ersten Workshop 2015 bei David Lebuser, dem Star der deutschen WCMX-Szene, gemacht. „Ich bin sowieso recht sportlich mit dem Rollstuhl unterwegs“, erzählt sie. „Ich habe mich schon immer Treppen runterbewegt oder bin Hügel runtergerast, wo die anderen alle gucken und sagen: Oh mein Gott.“

Rollstuhlsportarten sagten ihr trotzdem nie so richtig zu. Erst bei WCMX hatte sie das Gefühl: Das ist das Richtige. „Man muss sehr viel ausprobieren und Dinge immer wieder machen. Man braucht eine hohe Frustrationstoleranz. Die habe ich sonst nie, aber beim Skaten komischerweise schon.“ Und: „Du kannst alles Mögliche tun. Die Grenzen sind das Material.“

Denn beim Wheelchair Motocross besteht eben ein Risiko, dass der Rollstuhl beschädigt wird. Am besten benutzt man zum WCMX daher einen speziellen Sportrollstuhl. Wer sich das aus eigener Kasse nicht leisten kann, kann über Optionen wie Crowdfunding oder Stiftungen nachdenken.

Nicht jeder, der WCMX betreibt, muss gleich spektakuläre Tricks ausprobieren. Es geht darum, im Rollstuhl Grenzen auszutesten, kreativ zu sein. „Man kann das Gelernte auch im Straßenverkehr wieder verwenden“, so Ritterhoff. Denn Treppen, Rampen und Kanten gibt es schließlich nicht nur in der Skatehalle.

„WCMX ist cool, weil es ein wirklich ­inklusiver Sport ist“

Linda Ritterhoff, Drop In e. V.

Ähnlich wie beim normalen Skaten müssen Fahrer beim Wheelchair Motocross natürlich Stürze einkalkulieren. „Ich habe schon über ein Abo für Salbe aus der Apotheke nachgedacht“, sagt Fahrerin Anna Brinkmann lachend. Mehr als blaue Flecken holte sie sich aber bislang nicht, dafür sorgen Schützer und Helm. Die sollten WCMX-Fahrer definitiv nutzen.

Wenn in der Skatehalle Berlin mal eine WCMX-Fahrerin vornüber fällt, ist die Reaktion angenehm entspannt. Niemand schreckt hoch und rennt hektisch und entsetzt herüber; die Fahrerin kraxelt zurück in ihren Rollstuhl, dann geht’s weiter. „Man neigt bei Rollstuhlfahrern zu besonderer Fürsorge“, sagt Linda Ritterhoff. „Aber man kann sich bei jedem Sport verletzen, das ist normal.“

Anna Brinkmann genießt die Entspanntheit. Wenn sie allein in den Skatepark geht, sei das Umfeld noch nicht so weit. „Die Reaktion ist oft: Oh Gott, eine Rollstuhlfahrerin, und dann fällt die auch noch hin. Da wird man in Watte gepackt.“

Grundsätzlich können WCMX-Fahrer aber natürlich individuell in den Skatepark fahren. Wer sich nicht direkt allein traut oder lieber vorher die Grundlagen erlernen möchte, nutzt dazu am besten Workshops oder gemeinsame Sessions.

Informationen zum Berliner Projekt gibt es auf der Facebook-Seite „WCMX goes Berlin“ und unter ritterhoff@dropin-ev.de. Infos über WCMX überregional finden sich bei Facebook unter „WCMX Germany“. Deutschlandweite Workshops bietet zum Beispiel David Lebuser an.

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