Sorge um flügellahmen deutschen Bundesadler

Brüssel In der EU befürchten viele Akteure angesichts des Bundestags-Wahlergebnisses Verzögerungen europäischer Reformen

BRÜSSEL taz | Kommt jetzt endlich die lange versprochene EU-Reform? Oder scheitert nun alles an Deutschland und seiner angeschlagenen Kanzlerin? Das sind die bangen Fragen, die man sich in Brüssel nach der Bundestagswahl stellt.

Dabei sorgt nicht nur das starke Abschneiden der AfD für Verunsicherung. Auch die Aussicht wochenlangen Wartens auf die neue Koalition macht manche EU-Politiker nervös.

Ganz entspannt gab sich Martin Selmayr, der Kabinettschef von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: Er twitterte eine Jamaikaflagge, die von zwei Europafahnen eingerahmt war.

Doch es gibt auch kritische Stimmen. Der Einzug der AfD in den Bundestag sei ein „Schock“, twitterte EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici, ein Franzose. Belgiens Außenminister Didier Reynders sprach von einem „Debakel“.

Zwar betonen die Mahner, dass kein Zweifel an der Reife der deutschen Demokratie bestehe. Deutschland sei „heute stark“, erklärte Moscovici – „kein Vergleich mit 1933“. Doch in Brüssel empfindet man den Wahlerfolg der AfD auch als Rückschlag. Die Hoffnung, nach den Zitterwahlen in den Niederlanden und in Frankreich seien die Populisten geschlagen, hat sich zerschlagen.

Auch die Erwartung, nach der Bundestagswahl könne die EU endlich durchstarten, hat einen Dämpfer erhalten. „Wir haben wieder Wind in den Segeln“, frohlockte Juncker vor zwei Wochen. Nun herrscht Flaute.

Die komplizierte Choreografie der EU-Reform darf deshalb aber nicht durcheinanderkommen. Geplant ist, dass die 28 EU-Chefs bereits am Donnerstag, bei einem Abendessen in Tallin, den Reformkalender festzurren.

Er wünsche sich „Guidance“, also Führung, von Kanzlerin Angela Merkel und ihren Kollegen, schreibt Ratspräsident Donald Tusk in seinem Einladungsbrief.

Doch Merkel hält sich bedeckt. In Tallin werde es noch keine Entscheidungen geben, heißt es in deutschen Regierungskreisen. Merkel möchte erst einmal in aller Ruhe die Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron prüfen – und eine neue Koalition bilden.

Doch viel Zeit bleibt nicht mehr. Im Sommer 2018 müssen alle Reformen in trockenen Tüchern sein. Danach dürfte sich alles um den Brexit drehen, der dann in die Endphase geht. Und im Frühjahr 2019 kommt schon die nächste Wahl, diesmal zum Europaparlament. Eric Bonse