: Konfrontation statt Diskussion
PFLEGE Abgeordnete aller fünf Bürgerschaftsfraktionen sollten Rede und Antwort zum brennenden Thema Pflegenotstand stehen. Zu hören bekamen sie eine Menge, zu Wort kamen sie aber kaum
Das Thema Pflege rangiert bei den Deutschen als Kriterium für ihre Entscheidung bei der Bundestagswahl noch vor Umweltschutz, Flüchtlingen und Arbeitsmarkt. Das hat eine Umfrage ergeben, deren Ergebnisse der Berliner Tagesspiegel Ende Februar veröffentlicht hat. Auf der Podiumsdiskussion „Pflegenotstand vs. Menschenwürde“ am Montagabend war davon wenig zu spüren: Nicht einmal 40 Gäste fanden den Weg ins Konsul-Hackfeld-Haus, und das, obwohl Bürgerschaftsabgeordnete aller fünf Fraktionen Rede und Antwort standen.
Allerdings: Nicht nur das fehlende Publikum verpasste seine Chance, PolitikerInnen zu Konzepten gegen den Pflegenotstand und zur geplanten Novellierung des bremischen Wohn- und Betreuungsgesetzes (BremWoBeG) zu befragen, sondern auch Reinhard Leopold, Gründer der Selbsthilfe-Initiative „Heim-Mitwirkung“ und Regionalbeauftragter der Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA), Initiator und Moderator des Abends. Denn er hatte, durchaus berechtigt, eine Menge zu bemängeln.
Er wollte aber an diesem Abend viel zu viel davon auch ansprechen – und ließ seinen Gästen dadurch nur selten Gelegenheit, Stellung zu beziehen. Die bestanden neben Christopher Kesting und Heidrun Pundt vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBFK) und Jörn Gattermann, Bereichsleiter für Fort- und Weiterbildung bei der Bremer Geno, aus den Bürgerschaftsabgeordneten Peter Erlanson (Die Linke), Kirsten Kappert-Gonther (Grüne), Klaus Möhle (SPD), Magnus Buhlert (FDP) und Sigrid Grönert (CDU). Vordringliches Thema sollten die Schwachstellen des BremWoBeG sein: „Da herrscht noch dringender Änderungsbedarf“, sagte Leopold.
Dass er dann aber eine Themenflut, begonnen bei der Nichtbeteiligung unter anderem der BIVA und des DBFK an der Novellierung des Gesetzes, der Nichterreichbarkeit der bremischen Heimaufsicht, Geldern aus der Pflegekasse, die nicht dort ankommen, wo sie hin sollten, über Pflegeheime, deren Nutzen als Renditeobjekte offenbar wichtiger ist als die Qualität der Pflege bis hin zum verschleiernden Heim-Bewertungssystem aufs Parkett brachte, ließ nur wenig Luft, konkret über die bremischen Möglichkeiten von Verbesserungen im Pflegesystem zu sprechen.
Ebenfalls viel zu wenig Gelegenheit erhielt das Podium, auf die erschütternden Berichte Angehöriger über ihre Erfahrungen mit bremischen Heimen und Behörden sowie auf den Bericht einer Pflegerin über ihre katastrophalen Arbeitsbedingungen zu reagieren. Klar wurde: Die Pflegesituation ist desaströs. Und dass angesichts dessen in der geplanten Personalverordnung des BremWoBeG eine Fachkraftquote von nur einer Nachtwache für bis zu 50 PflegeheimbewohnerInnen vorgesehen ist, ist eine Katastrophe.
Immerhin dazu konnte das Podium etwas sagen. Die CDU-Abgeordnete Sigrid Grönert brachte ihr Unverständnis über die zwar ebenfalls eingeladene, aber abwesende Sozialsenatorin zum Ausdruck: „Sie behauptet, in den meisten bremischen Einrichtungen sei die Quote bereits bei eins zu 40, und sie strebe an, dass dies bis 2019 überall so sein soll – aber wieso steht das dann nicht im Gesetz?“ Eine berechtigte Frage, die unbeantwortet blieb.
Gänzlich unerwähnt blieben die fragwürdige Doppelfunktion der Heimaufsicht, die auch im novellierten BremWoBeG als Kontrolleurin und Beraterin für Pflegeheime vorgesehen ist sowie die nicht vorgesehene Evaluation des Gesetzes. Am heutigen Mittwoch befasst sich auf Antrag der Grünen-Fraktion die Bürgerschaft in einer Aktuellen Stunde mit den Arbeitsbedingungen in der Pflege – vielleicht ist dort ja mehr zu erfahren. schn
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