Berliner Szenen: Emcke in der Arztpraxis
Ganz cool tun
Die Stimme der Frau in der Schlange vor der Rezeption kommt mir bekannt vor. Die Frau selber auch.
Und dann weiß ich es auch schon: Das ist Carolin Emcke. Ich befinde mich in derselben Arztpraxis wie Carolin Emcke. Der Hammer. Dass ich nicht nur in derselben Praxis, sondern auch vor demselben Empfangstresen stehe. Das werde ich allen erzählen. Es wird nur keinen interessieren. Die Leute stehen in ein und derselben Schlange wie Carolin Emcke und tun ganz cool so, als wäre nichts.
Ist ja auch nichts. So sieht man das hier. Das ist eben Berlin. Schnauzstadt Herze. In München bildet sich um jeden winzigkleinen Prominenten sofort eine schwanzwedelnde Meute hofierender Speichellecker. Viele werden ohnmächtig. Schreie, Schluchzer und Sparifankerl. Überflüssige Zeitungsartikel. In der krisenerfahrenen Frontstadt mit ihren harten, aber herzlichen Menschen, die durch nichts zu beeindrucken sind, tut man jedoch so, als wäre das egal. Es gibt Wichtigeres. Morgen ist wahrscheinlich eh wieder Krieg. Oder mindestens Blockade.
Auch ich tue so, als ob ich lese. Bin aber viel zu aufgeregt. Wegen Carolin Emcke. Wahnsinn. Ich mag ja meistens, was sie schreibt. Später war ich mal kurz allergisch gegen ihre etwas langsam und gestelzt klingende Sprechweise. Das wirkt so spröde. Aber hier lächelt sie freundlich und hat eine angenehme Ausstrahlung. Gleich bin ich wieder krass der Fan.
Die Abneigung war ohnehin nur projizierter Selbsthass. Weil ich diesen Tonfall selber auch ein bisschen habe und immer befürchtete, dass mich die Leute deshalb für einen Angeber oder einen Idioten halten. Bis mir eingefallen ist, dass sie das ja sowieso tun – ob ich das nun befürchte oder nicht. Ich hab mich dann mit meiner Stimme versöhnt. Dafür kann ich inzwischen meine Fresse nicht mehr leiden. Uli Hannemann
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