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Die breakdancenden Countertenöre

Opernfestival In der Oper liebt man jetzt die Oberflächen des Pop. Aber inhaltlich hapert es oft, zeigt sich in Aix-en-Provence

von Regine Müller

Von den sommerlichen Opernfestivals ist dasjenige in Aix-en-Provence das heiterste. Das liegt nicht nur an seiner Tradition, die sich der Mozart-Pflege in französisch leichter Lesart widmet, sondern auch am Savoir-­vivre der malerischen Stadt. Das Festival steht für seine exquisite musikalische Qualität und die besondere Atmosphäre seiner Spielstätten.

Als Brutstätte kühner Regie-Experimente galt Aix freilich nie. Umso besser lassen sich am aktuellen Festival-Jahrgang Trends des Opernbetriebs ablesen, dessen Ästhetik sich mehr und mehr von nationalen Traditionen abzukoppeln scheint, um weltweit kompatibel und koproduktionsfähig zu sein. Dabei bedienen sich die Opernregisseure der ästhetischen Versatzstücke des Regietheaters, Elementen des Sprechtheaters, der Video-Ästhetik und gerne auch eines oft nur vorgetäuschten Purismus. Denn inhaltlich bleiben viele dieser Regiearbeiten brav, bloß bebildernd und analytisch schwach.

Als gälte es, sich zu erinnern, werden derzeit gern als exemplarisch geltende Regiearbeiten vergangener Opern-Zeiten exhumiert und auf ihre Gültigkeit überprüft. Man darf das wohl als Zeichen einer Orientierungslosigkeit oder Ermüdung werten. Denn etwas wirklich Neues – wie auf den Sprechbühnen das Dokumentartheater, die partizipativen Experimente, das Reenactment, das Vermischen mit Performance und bildender Kunst – gibt es in der Oper schon aufgrund ihrer formalen Gegebenheiten kaum oder gar nicht.

An die gemäßigte Modernität der heute flächendeckend durchgesetzten Post-Regietheater-Formensprache hat sich der gemeine Operngänger selbst in der tiefsten Provinz – oder gerade da? – längst gewöhnt. Weil das allgemeine ästhetische Empfinden eben doch über die „Werktreue“ jener Zeiten hinaus ist, in denen in einer beliebten TV-Sendung mit dem unsterblichen Titel „Erkennen Sie die Melodie?“ Kandidaten Opernszenen erkennen sollten, die in „falschen“ Kulissen und Kostümen gespielt wurden.

Selbst das als konservativ bekannte französische Opernpublikum, das noch vor wenigen Jahren in Paris gegen Gerard Mortiers Regisseure türenschlagend protestierte, schluckt heute in Aix-en-Provence in frühbarocker Oper schrille Trash-Kostüme, breakdancende Countertenöre und sogar Dmitri Tcherniakovs eiskalt dekonstruierte und mitleidlos ausgenüchterte „Carmen“ ohne Murren.

Tcherniakovs antifolkloristische und riskant gedachte Version des Repertoirehits bleibt in Aix jedoch die Ausnahme im Umfeld gepflegter Regiemoden. Bei Tcherniakov spielt die Handlung im Foyer einer gehobenen Therapieeinrichtung im Ambiente der 1960er Jahre: Eine frustrierte Ehefrau (Micaëla) schleift ihren Burn-out-Gatten (Don José) zur Gruppentherapie. In der Edelklapsmühle verdonnert ihn der Cheftherapeut – ein aalglatter Macron-Lookalike – zu einem Rollenspiel. Die „Carmen“-Handlung wird mit und an ihm nur simuliert, natürlich entgleitet das Experiment und bald weiß niemand mehr, was echt und was gespielt ist.

Ein extremer Verfremdungseffekt, den Tcherniakov konsequent durchdekliniert. Damit würgt er jedes „Carmen“-Klischee konsequent ab, sorgt für Distanz, aber auch neue Nähe zum Stoff. Er blickt vor allem auf Don José und treibt ein böse-ironisches Spiel mit Liebeskonventionen. Eine eisig erhellende und zugleich dem Wahnsinn nachspürende Deutung.

„Pinocchio“ wagt wenig

Den Auftakt des Festivals machte eine Uraufführung, was in Aix Tradition hat. Philippe Boes­mans nicht sonderlich kindertauglicher „Pinocchio“ wagt wenig, hat Längen und wirkt mit seiner Erziehungsmoral gestrig. Boesmans bewährter Libretto-Partner Joël Pommerat verantwortet auch die schnörkellose, bisweilen statuarische Regie. Boesmans stattet seine depressive „Pinocchio“-Variante mit einer süffigen, spätromantisch melodiösen und sängerfreundlichen Tonspur aus, die sich freimütig aus der Musikgeschichte bedient und einen rundum bekömmlichen Gesamtklang bietet. Da stört nichts das Behagen.

Die Mozart-Tradition in Aix widmet sich im Théâtre de l’Archevêché dem Frauenflüsterer „Don Giovanni“. Zunächst sieht alles nach einer gewitzten Deutung aus, denn Jean-François Sivadier inszeniert den Anfang beiläufig lässig, alle sind schon da, in heutiger Alltagskleidung, Don Giovanni schaut frech ins Publikum und nimmt Mozarts Pulsschlag mit Dancefloor-Gestus auf. Als neidischer Schatten folgt ihm Leporello, wie überhaupt bei Sivadier die Dienerschaft sehr präsent ist. Ihr Spannungsverhältnis zur Herrschaft und der Gewaltzusammenhang dieser Hierarchie könnte eines der schwelenden Themen dieser Inszenierung sein. Aber dann belässt Sivadier es bei sprudelnder Aktion und bedient sich zunehmend penetranter Verweise auf christliche Ikonografie (Don Giovanni als Gekreuzigter). Da täuscht die puristische Ästhetik etwas Kühnes vor, das inhaltlich nicht eingelöst wird.

Im Théâtre du Jeu de Paume gibt es schließlich mit der frühbarocken Rarität „Erismena“ von Francesco Cavallis eine tra­shig aufgehübschte Optik, die aber im pointensicheren Handwerk stecken bleibt. Die Intrigengeschichte mit ihren lustig durcheinander purzelnden Geschlechteridentitäten erzählt Regisseur Jean Bellorini genau und sparsam ausgestattet, wobei die vom Bühnenhimmel herabbaumelnden Glühbirnen bereits im „Don Giovanni“ vorkamen. Auch das offenbar eine Mode.

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