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„Wir werden zu einem Außenseiter in der EU“

Polen Die Europaabgeordnete Rosa Thun über die Alleingänge der PiS-Regierung und mangelnde Sanktionsmittel der EU

Protest gegen die Justizrefom am 25. Juli in Warschau Foto: Kornelia Glowacka-Wolf/Agencija Gazeta/reuters

Interview Gabriele Lesser

taz: Frau Thun, nehmen die Polen die Europäische Kommission noch ernst? Jarosław Kaczyń ski, Chef der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), lacht doch nur über die Brüsseler Mahnungen an Warschau, sich an die Europäischen Verträge zu halten.

Roza Thun: Wenn Kaczyński über die Empfehlungen aus Brüssel lacht, marginalisiert er Polen in der EU. Dabei sind wir das sechstgrößte, nach dem Brexit das fünfgrößte Land in der EU. Vielleicht will er mittelfristig Polen aus der EU führen. Oder er versteht die Verträge nicht, an die alle Mitgliedstaaten gebunden sind und denen alle Polen in einen Referendum zugestimmt haben. In den Verträgen steht ganz klar, dass wir uns an den Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie ausrichten sollen.

Hat die Europäische Kommission ohne ein wirksames Druckmittel überhaupt die Chance, gehört zu werden?

Als die EU-Mitglieder sich selbst ein Regelwerk gaben, konnten sie sich nicht vorstellen, dass eines Tages eine Regierung bewusst aus dem Kreis der Demokratien ausscheren würde. Die Kommission, die die Einhaltung der Verträge überwacht, kann zwei Instrumente einsetzen, um ein abtrünniges Mitglied in der Union zu halten: Bei konkreten EU-Rechtsverletzungen kann sie ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Dieses wird dann vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt, der sehr hohe und damit wirksame Geldstrafen verhängen kann.

Und das zweite Instrument?

Antwort aus Brüssel

Die EU-Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet, nachdem Staatspräsident Andrzej Duda ein Gesetz unterzeichnet hatte, das die Unabhängigkeit der Gerichte weiter einschränkt. Es erschien am Freitag im Gesetzblatt. Die Regierung in Warschau habe einen Monat Zeit, um auf das Warnschreiben zu antworten, teilte die Kommission am Samstag mit.

Konkret richtet sich die Kritik der EU-Kommission gegen das Gesetz über die allgemeinen Gerichte wie Amts- und Bezirksgerichte. Sie stößt sich daran, dass das Gesetz unterschiedliche Pensionsalter für Männer (65 Jahre) und Frauen (60 Jahre) vorsieht. Das widerspreche der EU-Richtlinie zur Gleichstellung der Geschlechter in der Arbeitswelt.

Polens Europaminister Konrad Szymański wies das Vertragsverletzungsverfahren indes als „unbegründet“ zurück. Das von Brüssel kritisierte Gesetz garantiere alle Prozessrechte und ermögliche die Einlegung von Rechtsmitteln.

Das zweite Instrument ist das Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages. Das war schon häufiger in der Diskussion. Am Ende kann ein Stimmrechtsentzug im Europäischen Rat stehen. Dazu aber bedarf es der Einstimmigkeit aller anderen Mitgliedsländern.

Ist die EU nicht ein zahnloser Tiger? Ohne die Stimme des ungarischen Premiers Viktor Orbán kann die Kommission doch keine Entscheidung im Falle Polens fällen?

Auch wenn es am Ende nicht zum Stimmentzug kommt, so kommt doch das laute Lachen Kaczyńskis in Brüssel an. Und dieses Auslachen der Politiker in Brüssel und in den anderen Mitgliedstaaten, der Werte der EU sowie der Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie entfremdet Polen innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft. Ich fürchte, dass wir so – trotz der proeuropäischen Einstellung der Gesellschaft – wirtschaftlich und politisch zu einem Außenseiter in der EU werden.

Vielleicht ist Kaczyń ski das egal? Vielleicht ist ihm der Umbau Polens zu einem autoritären Staat wichtiger als die Mitgliedschaft Polens in der EU?

Foto: EVP
Roza Thun

ist seit 2009 Mitglied für die christdemokratische Bürgerplattform (PO) im EU-Parlament. Sie engagiert sich im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz und setzte sich für die EU-weite Abschaffung der Roaminggebühren ein.

Es sieht ganz danach aus. Aber die EU kann nur funktionieren, wenn die Mitglieder konstruktiv und solidarisch zusammenarbeiten. Zerstört ein Land sich selbst, seine Verfassung und sein gesamtes Rechtssystem, kann die EU das nicht aufhalten. Das können dann nur noch die Menschen, die seit Wochen und Monaten auf den Straßen Polens gegen die PiS-Regierung demonstrieren.

Rauswerfen kann die EU ja kein Mitglied, oder?

Nein, aber die anderen Mitgliedstaaten wollen sich weiter entwickeln. Wenn die Kaczyński-Regierung das nicht will, dann wird sie die EU dazu auch nicht zwingen. Doch wir landen dann unweigerlich in einer EU B und verlieren den Anschluss. Stillstand aber bedeutet Rückschnitt. Für uns in Polen wäre das fatal.

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