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Afrika liegt im Kinzigtal

SCHLAGLOCH VON Ilija TrojanowVom Glück, die Welt anderer zu verstehen, anstatt über sie zu urteilen

Foto: dpa
Ilija Trojanow

ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher, darunter: „Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren“ (Residenz Verlag 2013) und „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag). Am 24. Mai erschien, ebenfalls bei S. Fischer, „Nach der Flucht“.

Seit zehn Jahren öffnen sich an einem sommerlichen Sonntag im Jahr die Türen des Rathauses in einer Kleinstadt des mittleren Schwarzwalds, um eine Autorin, einen Autor aus Afrika zu empfangen. Egal ob ein Platzregen niedergeht und oder die Sonne hinabbrennt, Menschen aus dem Kinzigtal und darüber hinaus nehmen dort Platz, wo wochentags ein gutes Dutzend Stadträte die Geschicke Hausachs lenken. Sie fächeln sich Luft zu, weil die Klimaanlage ausgeschaltet werden muss, damit die afrikanischen Gäste gut zu vernehmen sind. Sie lauschen neunzig Minuten lang Erzählungen aus einer Welt, die ihnen zum allergrößten Teil völlig unbekannt ist. Sie ziehen von dannen, bepackt mit Büchern, die ihnen erheblich mehr Neugier und Geduld abverlangen werden als Kleingeld.

Die deutsche Provinz traf früher eher selten auf Afrika. Aber die Zeiten ändern sich, nicht nur wegen Flüchtlingen oder Pfarrern (nicht wenige deutsche Gemeinden werden inzwischen betreut von sehr beliebten Gastseelsorgern aus dem Kongo oder Senegal), sondern auch wegen Literaturfestivals wie etwa dem „LeseLenz“ in Hausach. Im Kleinen wird hier praktiziert, woran es im Großen weiterhin mangelt: kennenlernen, zuhören, von den anderen lernen. Verstehen, nicht urteilen. Nichts über einen Kamm scheren, wenn man mal eine vielfältige Kollektion schöner äthiopischer Kämme zu Gesicht bekommt hat.

Eine detaillierte Karte zeichnen

In den vergangenen zehn Jahren kamen ganz unterschiedliche Literaten nach Hausach, aus dem ganzen Kontinent, und ein jeder brachte eigene Sicht- und Sprechweisen mit, sodass die Einheimischen nach einem Jahrzehnt eine detaillierte Karte des Kontinents zeichnen könnten. Eine Karte voller überraschender Erkenntnisse. Etwa, dass viele junge Kenianer sich der kolonialen Vergangenheit sowie den verlogenen nationalen Mythen stellen, indem sie die Facebook-Einträge eines Mannes namens Odhiam­bo Levin lesen und teilen, der stellvertretend für die Zivilgesellschaft seines Landes die Archive in London durchforstet.

Die Schriftstellerin Yvonne Owuor, dessen Roman „Der Ort, an dem die Reise endet“ jedem empfohlen sei, der poetisch inspiriert und politisch informiert werden möchte, zeigte geradezu vorbildlich auf, wie die Wunden der Vergangenheit die Konflikte im Land bis zum heutigen Tag prägen, wie die Gewalt während des antikolonialen Aufstands namens Mau-Mau in den 50er Jahren, gefolgt von seiner massenmörderischen Niederschlagung durch die Briten, die Gesellschaft bis zum heutigen Tag teilt. Ebenso, wie das Verschweigen diverser Verbrechen als fruchtbarer Boden für Legenden im Dienste von Machterhalt, Raub und Korruption dient.

Letztes Jahr hat der Sierra Leoner Ishmael Beah eine Ahnung davon vermittelt, wie die Traumata des Bürgerkriegs verhärtet werden durch neue Katastrophen, dieses Mal ökologischer Art. Riesige Minen im Besitz internationaler Konzerne vergiften die Umwelt, verursachen Ausschlag auf der Haut einer Dorfgemeinschaft, die innerlich von den Ungeheuerlichkeiten der Vergangenheit verätzt ist. In ähnlicher Weise hatte zuvor der somalische Romancier Nuruddin Farah vom Zusammenhang zwischen industrieller Fischerei, Giftmülldumping und Piraterie erzählt. So eindringlich, dass bei einer Schullesung (es gehört wesentlich zum Programm in Hausach, dass alle literarischen Gäste auch in den Schulen auftreten) ein Schüler mit entwaffnender Ehrlichkeit meinte, er würde in solchen Umständen auch Pirat werden. Romanen gelingt es, globale Kausalitäten in individuellen Schicksalen sichtbar zu machen, sodass der überaus nötige emphatische Blick von den dominanten medialen Abziehbildern und Vereinfachungen abrückt.

Begonnen hat es mit Chimamanda Ngozi Adichie aus Nigeria, inzwischen eine weltberühmte Autorin und einflussreiche Verfasserin eines Pamphlets, das feministische Gedanken wiederbelebt hat. Bei ihr wie auch bei allen anderen Autorinnen und Autoren wurde zudem sichtbar, wie selbstverständlich Menschen aus anderen Kontinenten kosmopolitisch sind – in Zeiten, in denen bei uns der Kosmopolitismus als weltfremde, elitäre Naivität verunglimpft wird. Zwischen afrikanischer Muttersprache, Lingua franca und Kolonialsprache changierend, zwischen dem Herkunftsland und einem westlichen Hafen (Yale, Canterbury, Groningen, Langenbroich u. a.), befreien sie den Blick von einem festen Standpunkt.

Fruchtbarer Boden für Vielfalt

Bei uns ist nicht einmal das Vermögen so sehr gefährdet wie anderswo das Leben

Gerade mitten im Schwarzwald, in einer Gegend, in die vor Jahrzehnten Hunderte andalusische Hutmacher einwanderten, um ihre Fingerfertigkeit in den Dienst deutscher Manufaktur zu stellen, fiel diese dynamische Vielfalt der Perspektiven und Positionen auf fruchtbaren Boden. Immer wieder zeigten sich Zuschauer beseelt von den erfahrenen Entführungen, von den oft spielerisch leicht und humorvoll vorgetragenen Anregungen, die Welt anders zu betrachten. Überhaupt der Humor: Auch wenn es wie ein Klischee klingt, zu erleben wie jemand wie Ishmael Beah, der Kindersoldat war und Unfassbares erlebt hat, mit seinem ansteckenden Humor das Publikum in eine lachende Gemeinde verwandelte, war wie der Einbruch von Sonnenlicht an einem grauen Wintertag. Und zudem eine notwendige Erinnerung, dass bei uns nicht einmal das Vermögen so sehr gefährdet ist wie anderswo das Leben.

Unvergesslich ist allen Anwesenden der Auftritt von Lebogang Mashile aus Johannesburg. Mit einer Wort­energie, die einer Urgewalt gleichkam, hat sie die Rhythmen der Townships ins Schwarzwälderische transportiert. Auf einmal war hörbar und spürbar, was der Gründer und Organisator des LeseLenz, der große Dichter José Oliver, vor Jahren durch einen Doppelpunkt sichtbar gemacht hat: „W:ort“. Die fremden Worte wurden in der deutschen Provinz heimisch und alle taumelten bereichert und beglückt in die laue Nacht. In Hausach hängen keine Wappen, sondern Poesiefahnen, und deutsche Leitkultur wird nicht abstrakt auf dem Tiefplateau der Dummheit eingefordert, sondern vorgelebt, als Neugier, als Würde, als Gastfreundschaft, als Begegnung, als gegenseitige Anteilnahme. So, wie es sein sollte.

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