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Grand Durchfahrt in 45 Sekunden

Tour de France Ein rasender Karnevalsumzug durchquert Deutschlands recht regennassen Westen: ein Wochenendeauf Speichenin sieben Akten

Aus Aachen Bernd Müllender

1. Die Werbebotschaften. Rührend, wie sich Städte und Dörfer in Szene setzten. Jeder glaubt, wenn die Tour für ein paar Momente unsere Gemarkung durchquert, sind wir für immer auf der Weltlandkarte. Und Millionen Touristen werden folgen. Rund um Düsseldorf wurde jedes Dorfschloss gefeiert, als sei es Versailles in klein, im Neandertal hampelten zwei kostümierte Steinzeitmenschen keulenschwingend auf einem Garagendach. Jülich war beglückt, dass Hinweise zum Brückenkopfpark live in 190 Länder gingen. Die Welt kennt jetzt auch Wanlo und Titz. Würselen kannte man auch so schon.

2. Der Regen. In Mönchengladbach regnete es. In Mönchengladbach regnet es immer. In Aachen (50.000 Euro Durchfahrtgebühr plus sechsstellige Orgakosten) hatten sie gesagt, bloß nicht das Klischee bedienen vom Regenloch. So gesehen müssten Aachener Hotels jetzt über Jahre zumachen. Mit Ankunft des Pelotons an der Stadtgrenze begann es zu schütten. Trotzig blieb der Befund: „Tolle werbewirksame Bilder“, so der OB, seien „in die Welt geschickt“. Image gesteigert, Synergieeffekte, Sympathiewerte. Jubel. Deutschland ist ein Riesenmarkt für die Fahrradindustrie. Gehört die Tour hierher? Der Wettergott hat ein klares Bekenntnis zu Frankreichs Süden abgelegt.

3. Die Vergangenheit. Immer wieder wurde von Vertrauensaufbau gesprochen, vom Neubeginn nach den Drogensumpfdekaden. Von der „ehemaligen Apothekenrundfahrt“ schrieb die Aachener Zeitung abschließend und naiv gläubig, passend zur Bischofsstadt. Jan Ullrich, Deutschlands prominentester Dauerdoper, wurde als Gast in Korschenbroich mit „Ulle, Ulle“-Sprechchören gefeiert.

4. Deutsch-französischer Karneval. Der Werbetross vorneweg als eine Art rasender Karnevalsumzug gefällt im Rheinland. 45 Minuten groteske Wagen, wenig Wurfmaterial allerdings, ein Akrobat auf einem Autodach spritzte mit einem Wasserschlauch bei rasender Durchfahrt die nassen Menschen nasser. Es gab Aufrufe: Kinder festhalten, Hunde anleinen, notfalls umgekehrt. Die Zuschauerzahlen waren gigantisch, auch auf einsamen Landstraßen. Viele Voyeure alkoholisiert und kostümiert. Auf der gesamten Strecke fuhr eine Ausreißergruppe vorweg. Petit Durchfahrt also vor der Grand Durchfahrt. Zwei Mal Jubelsalven, erst 15, dann 45 Sekunden. Sssst, whuuuush. Weg sind sie. Die Karnevalslieder aus Garagenausfahrten klingen weiter. Rheinland Helaaf und Alau.

5. Die Autos. Deutschlands heiligste Kuh erfuhr auch beim Zweiradspektakel höchste Wertschätzung. Gut, alle Städte entlang der Strecke waren zweigeteilt. Totalsperrung. In Aachen waren auf 12 Kilometer Radstrecke 1.200 Haltverbotsschilder aufgestellt, lauter kleine Grüße in französischen Nationalfarben. 2.000 öffentliche Parkplätze waren zu räumen. Tagelang Aufrufe. Reicht nicht? Also Zettel hinter die Scheibenwischer geklemmt, dann befuhr die Feuerwehr die Straßen mit Lautsprechern. Es blieben noch fast 400 Fahrzeuge. Selbst die wurden noch bekümmert: 350 Eigentümer klingelte das Ordnungsamt morgens aus dem Bett. 40 Wagen kamen an den Haken. „Viel weniger als gedacht“, freute sich die Stadt.

6. Der Protest. Als noch die Sonne schien, am Sonntagmorgen, hatten Braunkohlegegner, kostümiert mit Hemden, auf denen „Tour de France STAFF“ stand, eine Riesenleiter neben dem Aachener Rathaus aufgebaut und ein Banner mit der Aufschrift „Hambacher Forst muss bleiben“ quer über den Markt gespannt. Und das mit doppelter städtischer Hilfe: Die vorhandenen Stahlseile dienten früher der Stromzufuhr der Straßenbahn. Auch das Transparent war städtisch finanziert: Er war das Werbebanner einer großen Fotoausstellung 2016 in der Aachener Nadelfabrik. Der Referent des Oberbürgermeisters kannte indes kein Pardon: „Während des Pelotons fahren 60 französische, schwer bewaffnete Militärpolizisten mit. Die kennen keinerlei Spaß.“ Wird das Ding abgeschossen? Die fürsorgliche Stadt schickte einen Eingreiftrupp. Abgehängt.

7. Das Sportliche. Düsseldorfs Regen hatte reichlich Opfer gefordert: In einer scheinbar harmlosen Linkskurve nahe der Rheinkniebrücke brach sich Mitfavorit Alejandro Valverde die Kniescheibe. Andere crashten in die gleichen ungesicherten Metallgitter (Fleischwunden, ein Lendenwirbelbruch). Man vermutet einen Dieselölfilm unter den Pfützen als Ursache. Ein Grund mehr für innerstädtische Fahrverbote. Den Massensprint in Lüttich gewann am Sonntag Marcel Kittel aus Arnstadt. Die Sonne schien beglückt, Kittel weinte. Tony Martin, siebenfacher Zeitfahr-Weltmeister aus Cottbus, hatte sich nach einem Massensturz kurz hinter der Grenze Fleischwunden zugezogen. Gestern Mittag in Verviers ging er testweise an den Start. Das Gelbe Trikot trägt der Waliser Geraint Thomas. Er sagte, er sei Regen gewohnt.

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