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Theater Nur die Souffleuse weiß, was hier gespielt wird: „Ein schwaches Herz“, die letzte Volksbühnenpremiere von Frank CastorfDie kirschroten Bänder

Viel Text, große Präsenz: Daniel Zillmann sprang erst zwei Tage vor der Premiere ein Foto: Thomas Aurin

Von Katrin Bettina Müller

Der Schluss ist irre. Stummfilmästhetik auf der großen Leinwand: Oben auf dem Dach der Berliner Volksbühne werden die Buchstaben O S T gewienert, unten läuft eine Nosferatu-Gestalt im Stechschritt am Räuberrad, dem Volksbühnen-Symbol, auf und ab. Drei Arbeiter und der Direktor des Hauses stürzen besorgt heraus, was will dieser arme Irre da mit seinem Exerzierschritt und militärischem Gruß? Das letzte Aufgebot, um das Theater zu verteidigen? Schließlich transportiert die Ambulanz ihn ab.

Geht einem schon zu Herzen, dieses Ende der letzten Pre­miere von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne. Sieht der Regisseur und Intendant, der das Haus in der letzten Spielzeit mit seinen starken Stücken und denen seiner Kollegen (René Pollesch, Christoph Marthaler, Herbert Fritsch) vollgepackt hat, sich manchmal so, in einer verlorenen, ja vielleicht auch nur eingebildeten Schlacht um das Theater?

Der Bezug zur eigenen Geschichte, dieses Fass wird erst am Ende des knapp vierstündigen Abends aufgemacht, der mit „Ein schwaches Herz“ nach einer Erzählung von Dostojewski betitelt ist. In dieser Novelle verliert ein Schreiber, Wassja Schumkoff, den Verstand, als er endlich sein Liebesglück gefunden hat. Wie Georg Friedrich diesem Verliebten, der seinen Zustand nicht fassen kann, Konturen verleiht, wie sein dünngliedriger Körper immer mehr von der Größe der Gefühle zusammengedrückt erscheint, man ihm fast auf die Knochen schaut und seine Bewegungen überall von unsichtbaren Hindernissen gebremst werden, ist großartig.

Und doch macht diese Geschichte nicht satt, nicht über vier Stunden. Auch wenn die Wiederholung vieler Szenen, in denen es hauptsächlich um die Erwerbung einer Haube mit kirschroten Bändern geht, den Leerlauf und die Absurdität nahebringen, in der sich Wassja immer mehr einzirkelt. Frank Castorf hat noch zwei weitere Stoffe in den Abend gepackt, Dostojewskis fantastische Geschichte „Bobok“, in der sich die Toten aus den Gräbern heraus ihre größten Schweinereien erzählen, und „Iwan Wassiljewitsch“. Das ist eine 1973 in der Sowjetunion gedrehte Komödie um eine Zeitmaschine, die den Zaren Iwan den Schrecklichen versehentlich in die Gegenwart holt und dort gefangen hält. Die Bilder des Films sind oft über den Schauspielern auf der Bühne zu sehen und teils dynamischer und attraktiver. Denn auf der Bühne zieht sich einiges hin oder kommt nicht in Schwung wie die langen Monologe der Häubchenverkäuferin.

Fern hält einen aber auch, lange nicht zu wissen, wer was spielt; erst das Nachlesen auf Wikipedia am nächsten Tag bringt Klarheit, was denn die Geschichten waren. Das zu vermitteln scheint dem Regisseur nicht wichtig, eher den Taumel zu beflügeln und die Verwirrung. Manchmal scheint die Souffleuse die Einzige zu sein, die weiß, was hier gespielt wird. Klein und zierlich wieselt sie mit dem Textbuch hinter den Schauspielern her, zieht sie hier- und dorthin, kniet zur ihren Füßen, lässt sie ins Buch schauen und sagt die Texte vor. Der Witz an der Sache ist: Die von ihr so dirigierten Szenen sind die spannendsten.

Castorf liebt ja das Unabgeschlossene, ein Theater, das als Baustelle sichtbar bleibt. Allein, diesmal kam die Erkrankung eines Schauspielers hinzu, erst vor zwei Tagen sprang Daniel Zillmann in die Rolle des Schriftstellers ein, der die Geschichte von den redenden Toten erfindet; und noch in zwei weitere Rollen mehr, auch die von Iwan dem Schrecklichen. Viel Text, große Präsenz, und jedes Mal freut man sich, wie der stattliche Mann von der kleinen Souffleuse herumgeschubst wird, er knapp die Kurve kriegt und dann die Erkenntnis, zu welcher Rolle der eben gesprochene Satz gehörte, nachträglich seine Mimik prägt.

„Ein schwaches Herz“ ist auch eine ­Verabschiedung vom Raum Bert Neumanns

Artistisch ist dies ruckelnde Spiel eine große Freude. Aber möglicherweise, denkt man dann auch, hat dieser Energieaufwand verschluckt, was man mit der Geschichte vom in die Gegenwart geschleuderten Zaren vielleicht sonst noch hätte erzählen können. So bleibt alles skurrile Anekdote. Gespielt wird quer durch den Raum, über eine lange Rampe aus Asphalt, die Bühne und Zuschauerraum verbindet. Auf einer Längsachse stehen Betten, Türen, Tische. Dazwischen laufen die Schauspieler auf und ab, die Frauen gerne geschwind tippelnd auf hohen Absätzen.

„Ein schwaches Herz“ ist auch eine Verabschiedung von diesem Raum, der auf ein Konzept des verstorbenen Bühnenbildners Bert Neumann zurückgeht. Am 1. Juli ist der letzte Spieltag, dann beginnt der Rückbau. Bühne und klassischer Zuschauerraum, die es in ihrer ursprünglichen Form derzeit nicht mehr gibt, sollen wiederhergestellt sein, wenn das Haus am 31. Juli an Chris Dercon übergeben wird.

Frank Castorf kann eindeutig mehr, als ihm nun gerade in diesem Spiel, diesem letzten Geschenk an sein Stammpublikum, gelungen ist. Seine nächste Premiere in Berlin, so wurde diese Woche angekündigt, wird schon im Dezember sein: Am Berliner Ensemble, wo Oliver Reese der neue Intendant nach Claus Peymann ist, inszeniert Castorf „Les Misérables“ nach Victor Hugo. Seine Freunde bei der letzten Volksbühnenpre­miere tröstet das wenig. Castorf auf klassischer Guckkastenbühne klingt nach Kerker, nirgendwo wollen sie sein Spiel so genießen wie hier.

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