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Tanz als Realpolitik

Tanz Das Dock 11 stellte die Arbeit der Partnerorganisation Machol Shalem Dance House (MASH) in Jerusalem vor. Ganz ohne Tränen ging das nicht

So wie Ofra Idel die Gegend um das Machol Shalem Dance House in Jerusalem beschreibt, kommt erst einmal die Frage auf: Warum gerade da? Also da, wo die israelischen Black Panthers (Widerstandsbewegung vor allem nordafrikanischer Juden) den Tänzer*innen das Terrain streitig machen, die Ultraorthodoxen ständig kontrollieren, ob die Vorhänge auch bis auf den letzten Millimeter zugezogen sind, und die Ostjerusalemer sowieso nichts mit einem zu tun haben wollen.

„Die drei Religionen streiten hier um jeden einzigen Stein“, sagt Idel. Raum sei unbezahlbar in Jerusalem. „Als das kleine, heruntergekommene Kulturzentrum uns zur Renovierung angeboten wurde, war das die einzige Chance auf ein Tanzzentrum.“ Idel, Choreografin, Gründungsmitglied und künstlerische Co-Leiterin des Machol Shalem Dance House (MASH), wägt jedes ihrer Worte ab. Den Stadtteil, in dem sie arbeitet, bezeichnet sie mit dem arabischen Namen „Musrara“.

Paralleluniversen

Um von den verschiedenen Interessengruppen der Gegend akzeptiert zu werden, fächert sich das Programm in acht Komponenten, vom Frauen-für-Frauen-Programm für die Ultraorthodoxen über ein israelisch-palästinensisches Jugendprogramm (Zusammenarbeit im Erwachsenenalter ist nicht möglich) bis zu internationalem zeitgenössischem Tanz: neuste Techniken, das Knacken letzter Körpertabus. Hört sich nach einem Universum an Parallelwelten an, zusammengedrängt auf dichtestem Raum, angesiedelt zwischen Ignoranz und enormer Frustrationstoleranz. Tanz als Realpolitik.

Nun war MASH zum ersten Mal mit Auszügen aus dem internationalen Programm sowie aus der Jugendarbeit in Berlin, zu Gast bei der langjährigen Partner-Institution Dock 11 im Prenzlauer Berg. Auch zwei Gaga-Workshops dürfen im Programm nicht fehlen. Gaga, eine virale Tanztechnik, die von Ohad Naharin, dem Direktor der renommierten Batsheva Dance Company aus Tel Aviv, entwickelt wurde, lässt sich vielleicht am besten als Anleitung zum Loslassen beschreiben. Im Dock 11 wird sie mit Gute-Laune-Garantie vom New Yorker Shamel Pitts unterrichtet, der mehrere Jahre bei Batsheva tanzte und nun mit Kursen und ersten eigenen Performances durch die Welt vagabundiert.

Für MASH zeigt der offenherzige Tänzer (der sich eine Basquiat-Krone unter den Haaransatz tätowieren ließ, lange bevor der früh verstorbene afroamerikanische Starkünstler wiederentdeckt wurde) „Black Box: Little Black Book of Red“.

Entwickelt hat er das auf einem persönlichen Langgedicht basierende Stück zu seinem 30. Geburtstag, an dem er sein Apartment zeitgleich zur Blackbox umgestaltete – schließlich hatte er „weder Hund noch Kind“. Schwarz auf schwarz, selbst das Licht (von Tom Love) ist „schwarz“, wird Theater hier zum Lebensprojekt, zur magischen, oft nur durch Bewegungsschlieren auszumachenden Anverwandlung eines den schwarzen Körper nicht mitdenkenden Raums: „What’s real is what I feel“.

Alltagsdiskriminierung

Auffällig ist, dass sich unter den fünf MASH-Aufführungen noch eine weitere mit „schwarzen“ Perspektiven beschäftigt: „Black Label“ von Ofra Idel, gewidmet dem Tänzer Tzvika Iskias. Für Idel ist er gewissermaßen das Komplementärmodell zu Pitts, der als afroamerikanischer Künstler, nach eigener Aussage, gern gesehener „Exot“ in Israel ist – während Iskias, der zwei Jahre lang durch die Wüste wanderte, als äthiopischer Jude heftigsten Alltagsdiskriminierungen ausgesetzt ist. Und dann geht es im Gespräch mit Idel plötzlich auch noch um eine Theaterpistole, die für das Stück ausgeliehen werden musste. Ein echtes deutsches Gewehr, sagte man ihr. Als sie das erzählt, stehen Tränen in ihren Augen. Sie wischt sie weg. Woher ihre Vorfahren kamen? Aus Rumänien. Gäbe es ein Motto für MASH, dann vielleicht: Tanzen, nicht weinen. Astrid Kaminski

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