Ankaras schöne neue Eckigkeit

Fotografie Im Schweriner E-Werk zeigt der Kunstverein der Landeshauptstadt ein Fotoforschungsprojekt der Künstlerin Katja Eydel. Sie hat sich vorgenommen, die „Erfindung der Türkei“ zu zeigen, und zeichnet das Porträt einer erzwungenen Modernisierung

Mit der brachialen Klarheit von Nazi-Architektur: Atatürk-Mausoleum Foto: Katja Eydel

Aus schwerin Jens Fischer

Das ehemalige Schweriner Elektrizitätswerk ist heute das „E-Werk“, eine Außenstelle des Staatstheaters und die Zentrale des Kunstvereins. 1904 im Geist der Neorenaissance errichtet, wurde es wie ein Schlösschen designt. Der in die Zukunft weisende Bau sollten nicht die Reihe der repräsentativen Stadtvillen am Pfaffenteich sprengen, der Schweriner Binnenalster.

Aktuell gezeigt wird im E-Werk „Die Erfindung der Türkei“ von Katja Eydel. Ein Fotoforschungsprojekt, das die Künstlerin 2005 in Ankara realisiert hat. Und dabei genau das thematisiert, was auch am Schweriner Pfaffenteich zu erleben ist – nämlich Architektur und Stadtplanungsgeschichte als Ausdruck gesellschaftlicher Utopien und politischen Selbstbewusstseins.

Es war einmal ein gewisser Recep Tayyip Erdoğan, der gegenaufklärerisch in die Vergangenheit aufbrach, anti-laizistisch mehr Despotie, weniger Demokratie etablierte, Ballast wie rechtsstaatliche Prinzipien und Meinungsfreiheit entsorgte, die Deemanzipierung der Frau voranbrachte und eine Reorganisation der Medien als Werbeagenturen der Machthaber begann.

Keine 100 Jahre zuvor hatte seine Türkei ein moderner Staat sein wollen und neigte zu Über­identifizierung mit dem Westen. Das in schöner neuer Eckigkeit großräumig geplante Ankara wurde Hauptstadt und Symbol des Kemalismus. Es war die Ideologie einer Elite, die dank ihrer Revolution von oben 1923 einige Restflächen des Osmanischen Reichs zusammensammeln konnte und als Türkei neu erfand. Es ging um Abgrenzung gegen die arabische, islamische, osmanische Vergangenheit – und um geistigen sowie wirtschaftlichen Anschluss an die Industrienationen.

Eydels Fotos zeigen Menschen, die nicht mehr in Großfamilien gebettet sind, sondern ameisenklein auf übergroßen Wegen an Heldengedenkstatuen vorbeispazieren. Sie leben hübsch parzelliert und sollen im Schatten gen Himmel wachsender, Sicherheit suggerierender Urbanität ein neues Heimatgefühl entwickeln, mehr noch: eine nationalstaatliche Identität.

In bewusst beiläufigen Schnappschüssen dokumentiert Eydel die ästhetischen Hilfsmittel der Politik. Sie entdeckt rationalen Bauhausschwung, Vorwegnahmen des sozialistischen Klotzarchitekturrealismus und Prahlereien wie an den Karl-Marx-Alleen dieser Welt. Besonders viele Beispiele sind abgelichtet, in denen der funktionale Purismus à la Corbusier mit regionalen Schmuck-Applikationen, historistischen Schönheits-OPs oder schlichten An-, Um-, Überbauten ad absurdum geführt wird. Es ist eine Orientalisierung des Okzidents, die Suche nach etwas Eigenem in der importierten Moderne.

Verstörend allerdings, dass gerade Plätze und staatliche Gebäude die brachiale Klarheit und Monumentalität der Nazi-Architektur vermitteln. Im Ausstellungskatalog wird das mit der Anwesenheit von Paul Bonatz erklärt, der von Berlin aus, „wo er an den ,Germania‘-Planungen gearbeitet hatte, nahtlos in die Türkei wechselte“.

Ebenfalls verstörend sind die abgelichteten Aufmärsche und Massensportveranstaltungen: Jugendliche werden inszeniert als entindividualisierte rhythmische Sportgymnastiker und die Staatsgewalt präsentiert sich im Entertainermodus mit Motorrad-Stunt-Shows am Feiertag der Polizei. Unscheinbar hingegen sind die Modelleinrichtungen gegen die Armutsfolgen des Modernisierungsprozesses: Lässig in einer Schlange aufgereihte Menschen warten vorm Büdchen der Volksbrotausgabe.

Eydel zeigt auch den beengten Hinterzimmercharme des ersten Parlamentsgebäudes: Holzbalkendecke, Kerzenleuchter, kirchliches Chorgestühl und Möbel aus dem Schulmuseum. Daneben hängt ein Foto des steril geweißten neuen Sitzungssaals mit seinen quietschroten Ledersitzen: ein charmefreier Ort in den Farben der Nationalflagge. Und symbolischer Ort der säkular-modernen Republik.

Ein den Bürgern übergestülptes Konstrukt? Das legt auch die Gegenüberstellung einer fidelen Volkstanz-Unterrichtsszene auf dem Schulhof mit einem Nähmaschinenkurs uniformierter Mädchen nahe. Katja Eydels Fotos porträtieren fremdelnde Menschen. Erzwungener Traditionsverlust und erzwungene West-Orientierung scheinen zu höherem Lebensstandard, aber auch zu latenten Identitätskrisen zu führen, die unter Erdoğan anscheinend gerade erneut einen antimodernen Ausbruch erleben.

Verstörend sind die Aufmärsche und Massensportveranstaltungen

Wer will, kann das aus den sehr locker gehängten Fotoserien herauslesen. Wer will, kann diese auch als Bildreportage eines gesellschaftlichen Umbruchs betrachten und den Impressionenmix aus vermeintlich Bekanntem und fremd Scheinendem wie ein Anthropologe angehen, sich also erst mal seiner Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster vergewissern. Infos zu Vor- und Hintergründen des Dargestellten ergänzen die Schau leider nur spärlich.

Die Kunsthalle selbst ist ein prima Ort der Einkehr. Ein Pfaffenteichüberfluss plätschert vor den riesigen Fenstern, Fischreiher schauen mal herein, nicht mehr als 20, 30 Besucher kämen die Woche vorbei, heißt es im Büro des Kunstvereins. 2002 wurde er gegründet, weil es Schweriner Bürgern an Präsentationsmöglichkeiten für zeitgenössische bildende Kunst mangelte.

Fünf Ausstellungen pro Jahr werden realisiert und finanziert durch die Beiträge der 150 Vereinsmitglieder sowie den Verkauf der Jahresgaben. Das Geld reicht, um einen vorbildlichen Service anzubieten: Der Eintritt ist immer frei. Und die 260 Quadratmeter der alten, noch von Stahlträgern sichtbar durchzogenen Werkstatthallen sind allein schon sehenswert. Wer sie betritt, schnüffelt noch die ursprüngliche Nutzung: Altöldüfte liegen in der Luft.

Für Eydels Aufnahmen kann auch ein Raum erstmals genutzt werden, der bisher als Requisitenlager des Staatstheaters im Originalszustand vor sich hin dämmerte. Nun sind die Kachelmosaike mit Fußbodenbeton übergossen und hinter Wänden versteckt: die Erfindung einer Abstellkammer als Kunstraum für die Erfindung der Türkei als Staat.

„Die Erfindung der Türkei“: bis 11. April, mittwochs bis sonntags, jeweils von 15 bis 18 Uhr; Gespräch mit der Künstlerin Katja Eydel: Fr, 7. April, 19 Uhr, Kunstverein Schwerin