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Im toten Winkel

VERKEHR Am Donnerstag ist eine Radlerin von einem rechtsabbiegenden LKW überfahren worden. Trotz vieler Spiegel kommt es immer wieder zu solchen Unfällen

Nicht einsehbar: toter Winkel eines LKW unter 3,5 Tonnen Foto: ADFC

von Gernot Knödler

Es ist wieder passiert. Am Donnerstagmorgen hat ein Lastwagen beim Rechtsabbiegen im Schanzenviertel eine Radfahrerin überrollt und schwer verletzt. Dabei geriet die 59-Jährige mit den Beinen unter die Räder und wurde eingeklemmt. Das geschah gegenüber der Einmündung, an der 1991 die kleine Nicola von einem Laster totgefahren worden war, was zu wochenlangen Protesten der Anwohner führte und dazu, dass auf der Stresemannstraße heute Tempo 30 gilt.

Weil – insbesondere die schweren – LKW-Unfälle zugenommen haben, hat die Polizei diese in der jüngsten Verkehrsunfallbilanz erstmals eigens ausgewiesen. SPD und Grüne in der Bürgerschaft haben den aktuellen Fall zum Anlass genommen, elektronische Assistenzsysteme für die Fahrer zu fordern. Denn die Spiegel an den Fahrzeugen reichen offensichtlich nicht aus – obwohl sie seit 2009 eine lückenlose Rundumsicht gewährleisten sollen.

Im vergangenen Jahr wurden 410 Menschen bei LKW-Unfällen in Hamburg verletzt. Elf Menschen starben, darunter eine vierköpfige Familie, als ein Laster auf der A1 in ein Stauende krachte. Viele dieser Unfälle haben mit der beschränkten Sicht aus dem Führerhaus zu tun.

„Trotz aller Spiegel kann der Fahrer nicht jederzeit alles in Blick haben“, heißt es in einem Papier des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) Hamburg. Je schwerer und größer die LKW, desto mehr Spiegel sind zwar vorgeschrieben, aber die Spiegel sind nach Fahrerwechseln oft nicht optimal eingestellt und die Fahrer von der Vielzahl der Eindrücke überfordert. Dazu kommt, dass die Fahrer ihre Sicht durch Nippes und Namensschilder auf dem Armaturenbrett einschränken – „eine gefährliche und überdies verbotene Unsitte“, wie Siegfried Brockman von der Unfallforschung der deutschen Versicherer (UDV) warnt.

Laut der Verkehrsunfallbilanz der Hamburger Polizei sieht ein LKW-Fahrer den anderen insbesondere dann nicht, wenn sie beim Fahrstreifenwechsel nebeneinander herfahren. Fußgänger und Radfahrer übersehen sie beim Rechtsabbiegen, Wenden und Rückwärtsfahren.

„Wenn sowohl Radler als auch LKW-Fahrer besser auf den Verkehr achten würden, ließen sich viele der häufig tödlichen Kollisionen vor allem an Kreuzungen verhindern“, folgerte der UDV aus der Auswertung seiner bundesweiten Datenbank.

Demnach waren zwei Drittel der Radler, die mit rechts abbiegenden Lastern kollidierten, Frauen und 40 Prozent der Beteiligten Senioren ab einem Alter von 65 Jahren. Die meisten Unfälle seien geschehen, während der Radler Grün hatte. Das widerlege die gängige Annahme, „dass es sich hier um besonders schnelle oder rüpelhafte Radfahrer handeln könnte“, findet Brockmann.

Der ADFC empfiehlt, die LKW-Fahrer für die Gefährlichkeit des Abbiegens zu sensibilisieren. Sie dürften mit Abbiegen nicht beginnen, bevor nicht sichergestellt sei, dass von hinten oder von vorn kein Radfahrer komme. Deren Bevorrechtigung ergibt sich aus der Straßenverkehrsordnung. Ein besondere Gefahr ergebe sich überdies daraus, dass sich der Sichtbereich der Spiegel ungünstig verschiebt, sobald die Fahrzeugkabine schräg steht.

Gefahr und Rettung

Im vergangenen Jahr gab es in Hamburg laut der Verkehrsunfallbilanz der Polizei 68.400 Unfälle, davon 8.700 mit Lastwagen über 3,5 Tonnen.

Bei 410 LKW-Unfällen wurden Menschen verletzt, davon 53 schwer, elf starben.

In jeden dritten Unfall, bei dem Menschen getötet wurden, waren Lastwagen verwickelt.

Die wichtigsten Unfallursachen bei LKW-Unfällen mit Verletzten waren Nebeneinanderfahren mit 125 Fällen, Geschwindigkeit und Abstand (100 Unfälle), Rechtsabbiegen (25), Wenden/Rückwärtsfahren (19), Vorfahrt/Vorrang missachtet (18).

Neben den toten Winkeln geht eine Gefahr von den Hinterrädern langer Fahrzeuge aus. Sie legen einen kürzeren Weg zurück als die Vorderräder und können einen Fußgänger oder Radler von hinten erfassen.

Die Polizei hat LKW-Fahrern zusammen mit der Berufsgenossenschaft (BG) Verkehr auf zwei Veranstaltungen demonstriert, wie sie ihre Spiegel richtig einstellen können. Die BG Verkehr hat dafür farbige Planen entwickelt, die an den LKW angelegt werden und die der Fahrer sehen können muss, wenn die Spiegel korrekt justiert sind.

Als Grundregel für alle Verkehrsteilnehmer empfiehlt die Polizei: „Blickkontakt schafft Sicherheit!“ Überdies rät die Polizei Fußgängern und Radlern im Zweifel auf ihr Vorrecht zu verzichten und den Bereich direkt vor der Fahrerkabine zu meiden.

Zusätzlich empfiehlt der UDV, Abbiegeassistenten einzuführen. Berechnungen auf Basis seiner Unfalldatenbank ergäben, dass damit 60 Prozent aller schweren LKW-Fahrrad-Unfälle vermieden werden könnten.

Solche Assistenten, die mit Hilfe von Radarsensoren den Fahrer informieren, ob sich ein Fußgänger oder Radler im Abbiegebereich befindet, wollen SPD und Grüne auf Bundesebene zur Pflicht machen. Die CDU forderte den rot-grünen Senat auf, eine Nachrüstungsprämie für solche Systeme auszuloben.

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