: Die Sitzhöcker des Menschen
Theater Kratzen an Scham- und Ekelgrenzen: Ein Stück „Lust“ im Theaterdiscounter
Eine lange, leere Halle, weißer Schleim tropft von der Decke. Gliedmaßen zucken. Schneller Atem geht in Keuchen über. Sexuelle Ekstase? Abrupter Abbruch nach wildem Tanz. Befreites Lächeln und lockere Begrüßung: „Schön, dass ihr alle gekommen seid.“
Die Performance der Gruppe „Frauen und Fiktion“ heißt „Lust / sexuelle Biographien & unerhörte Phantasien von Frauen“. Das erzeugt Erwartungen, mit denen in der Vorstellung gespielt wird. Wird sich jemand ausziehen? Wird es explizit? Vielleicht kommt auch das Unbehagen, „hoffentlich sprechen sie mich nicht an“. Klar ist: Ein entspanntes Zusehen im wohlig anonymen Dunkeln, wird es sicher nicht.
Patricia Carolin Mai ist Tänzerin, Eva Kessler Schauspielerin. Beide haben auf der Bühne oder vor der Kamera schon Erotik dargestellt. Im Theaterdiscounter zeigen sie, wie das geht. Viel Rutschen, viel Nähe: „Ja, das sieht echt aus, fühlt sich aber nach nichts an“, unterbricht Kessler die rhythmischen Bewegungen abrupt. Eine Sexszene im Film sei mehr eine sportliche als lustvolle Angelegenheit. Für den verschwitzten Körper etwa müssen vorher Liegestütze absolviert werden, erklärt die Schauspielerin.
Erotisch-anmutende Szenen gibt es an diesem Abend im Theaterdiscounter in Berlin-Mitte mehrere. Mal sind sie sinnlich, mal gipfeln sie in hektischem Zucken des ganzen Körpers. Das verlangt nicht nur den beiden viel ab, sondern auch ihrem Publikum. Den Comic-Relief, der durch nüchterne Kommentare der Schauspielerinnen erzeugt wird, brauchen beide Seiten. Das zurückhaltende Lachen des Publikums scheint auch Abbau körperlicher Scham zu sein.
Während der Performance werden die Besucher*innen immer wieder angeregt, über eigene sexuelle Wünsche nachzudenken. Sie stöhnen unsicher ins Mikrofon und kreieren eine gemeinsame Sexfantasie. In einer Küche machen fünf Menschen, die sich verabscheuen, irgendetwas mit einem Kerzenständer. Skurril, aber alles ist möglich. Die geflüsterten Fantasien reichen von Fußfesseln über Schweiß, von jungen Personen bis zur Seniorin. Glieder werden geschüttelt. Eine intensive Wahrnehmung der menschlichen Muskeln ist die Folge.
Ein Muskel-, Haut- und Fleischfreak sei sie eben auch, sagt Patricia Mai. Die Sitzhöcker des Menschen beispielsweise, sitzend kann man darauf schön herumrutschen. Probiert es doch aus. Es kommt Bewegung ins Publikum. Noch etwas zurückhaltend fangen einige an, die Bewegung der Schauspielerinnen nachzuahmen. Den Unterleib vor und zurück bewegend zählen die derweil häufig gestellte Fragen auf: Ist das Thema Lust nicht viel zu persönlich? Seid ihr dafür nicht viel zu jung? Zu alt? Darf man auch als Mann ins Stück kommen?
Kessler und Mai stellen viele Fragen symbolisch in den leeren Raum, geben Gesprächsstoff für den Nachhauseweg. Gibt es eine ursprüngliche Lust, die es aufzudecken gilt? Wie kann ich meine Lust auch ohne moralische Einschränkungen leben? Antworten gibt es nicht, diskursiven Input wenig.
Frauen auf der Bühne thematisieren die Frau auf der Bühne. Doch ist das Sprechen über weibliche Lust wirklich noch ein Tabuthema, mit dem gebrochen werden muss? In der Kunst wird es seit den 60er Jahren immer wieder aufgegriffen. Trotz intensiver Tanzparts mit eindringlicher Musik und humorvoller Beschäftigung mit Schamgrenzen zeigt „Lust“ wenig Neues. Augenscheinlich hat sich an der Thematik über Jahre nicht viel verändert.
Am Schluss gehen einige Zuschauer nach vorn, fassen die Schleimmasse an. Offen reden sie vor der Tür und dann in der U-Bahn über die weibliche Sexualität. Das Stück schließt erwartbar und humorvoll fragend: „Ist hier heute Abend jemand gekommen?“ Linda Gerner
Wieder heute um 20 Uhr im Theaterdiscounter
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