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Evolution und Alltag

Kino Den Zustand der Gesellschaft mitsamt ihren Problemen wortlos kommentieren: Eine Werkschau der tschechischen Dokumentarfilmerin Helena Třeštíková im Arsenal beeindruckt mit geballtem Unglück

Wie aus Sturheit Kriminalität wird: Szene aus „René“ (2008) von Helena Třeštíková Foto: Arsenal Institut

von Carolin Weidner

Ist einmal die Welt der tschechischen Dokumentarfilmerin Helena Třeštíková betreten, verschwimmen die einzelnen Arbeiten miteinander. In fast allen befindet man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt etwa in der Stadt Prag, und wenn Třeštíkovás Kamera die Plätze und Kirchen aufnimmt, wäre es kaum von Überraschung, käme gleich jemand um die Ecke, dem man bereits in einem anderen ihrer Filme begegnet ist.

„Kennengelernt“ trifft es für die Filme Třeštíkovás besser, obwohl sie aus einer Reihe von Begegnungen gemacht sind. Doch gerade die Abfolge von Begegnungen ist es, die irgendwann das Gefühl vermittelt, man wüsste jetzt irgendwie Bescheid über sie oder ihn. Nicht selten sind es zehn, zwanzig Jahre, die Třeštíková an einer Person festhält, ihren Lebensweg mitverfolgt und teilweise auch direkt von dessen Wandel betroffen ist.

In „René“ (2008), einem der wichtigsten Filme der Werkschau, die das Kino Arsenal Helena Třeštíková von 2. bis 20. März ausrichtet, wird die Filmemacherin von René Plăsíl bestohlen, den sie als Teenager in den 80er Jahren anfing in den Blick zu nehmen. René zählt zu den herausragendsten Personen dieser Schau, vielleicht, weil er in extremer Form so viel von dem verkörpert, worum es Třeštíková immer wieder zu gehen scheint: der Unmöglichkeit bestimmte Aspekte seiner Selbst hinter sich zu lassen, und den Aufprall mit politischen und juristischen Systemen.

Plăsíl präsentiert sich zunächst als bockiger Halbstarker, der gar nicht mal aus Dummheit die normativen Schritte ins Erwachsenenleben verweigert – sie ergeben für ihn einfach keinen Sinn. Třeštíková beobachtet, wie aus Sturheit Kriminalität wird, obwohl es seltsamerweise zu keinem Zeitpunkt des Films gelingt, Plăsíl ernstlich als Kriminellen zu akzeptieren.

Regisseurin und Objekt (eine aus dem Film entlehnte Gegenüberstellung, die René an einer Stelle zur Sprache bringt) erwecken den Eindruck, immer auf „der richtigen Seite“ zu stehen, trotz der wieder und wieder stattfindenden Fehler mitsamt ihren Konsequenzen. Die geläufigste lautet Knast und es ist auch der Ort, aus dem René Třeštíková Briefe schreibt und in dem er wiederum auch Romane verfasst, aus denen der Film „René“ gelegentlich zitiert.

René Plăsíl erweist sich als gebrochener Intellektueller, der keine Posen einnehmen möchte und gerade deswegen doch wieder in eine ziemlich starke verfällt erwirkt. Man erliegt schnell seinem Charme, und auch Třeštíková ergeht es möglicherweise so, auch noch, nachdem Plăsíl einen Einbruch in ihrer Wohnung verübt hat.

Helena Třeštíková wurde 1949 in Prag geboren, studierte an der Prager Filmhochschule FAMU und hat einige Ausflüge in die Politik unternommen (auch hier ist es wieder „René“, in dem diese Episode auftaucht, was ebenfalls für die besondere Bindung zwischen beiden spricht, denn in den meisten anderen Filmen bleibt Třeštíková hinter der Kamera). Bekannt geworden ist sie mit einer Reihe für das tschechoslowakische Fernsehen namens „Marriage Stories/ Manželské etudy“ aus dem Jahr 1987, einer sechsteiligen Serie, die das Leben von frisch verheirateten Paaren zeigte.

Nicht selten sind es zehn, zwanzig Jahre, die Třeštíková an einer Person festhält

Unbeholfene, zum Teil voreilige Paarungen aufgrund von Schwangerschaft und Konvention, die nicht selten in der Scheidung endeten. Gewissermaßen liefert die Serie den Grundstock, den Humus in Třeštíkovás Filmschaffen, denn mit vielen jener Paare bleibt sie in Kontakt, verfolgt die Lebenswege weiter, filmt Sehnsüchte, das Aufwachsen von Kindern, Scheitern und Neuanfänge. „Marcela“ (2006) gehört zu diesen Arbeiten, genauso wie „Marriage Stories 20 Years Later – Zuzana & Stanislav“ (2006), sowie „Ivana & Václav“ (2006), die auch alle Teile der Werkschau sind.

Sie berichten von Alltag und persönlicher Evolution (oder Stagnation), aber auch von den Umwälzungen der Tschechoslowakei, die 1993 in den beiden Staaten Tschechien und Slowakei aufging. Nicht nur einmal geistert der 2011 verstorbene Václav Havel durchs Bild, beziehungsweise über die Fernsehbildschirme, einer der maßgeblichen politischen Persönlichkeiten der ehemaligen Tschechoslowakei und des späteren Tschechiens.

Die Filme Třeštíkovás lassen sich damit auch als eine Art Metakommentar zum Zustand der Gesellschaft mitsamt ihren Problemen lesen, ohne, dass Třeštíková auch nur ein einziges Wort dazu verlieren müsste: die Tragik Einzelner genügt als Ausdruck. Besonders schonungslos stürzt sie in „Katka“ (2009) auf einen ein, der Abstiegsgeschichte einer jungen Frau, die an der Nadel hängt und um die es dunkler wird. Nicht allen Personen in den Filmen Helena Třeštíkovás ergeht es so, aber die Ballung an Unglück macht schon Eindruck.

2. bis 20. März, Kino Arsenal

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