heute in Bremen: „Ohne jeden Zwang“
Literatur Thomas Böhm stellt den britischen Trend „Shared Reading“ vor
48, ist Schriftsteller und arbeitet außerdem als Literaturvermittler.
taz: Herr Böhm, Lesekreise gibt es schon lange, was ist das Neue am „Shared Reading“?
Thomas Böhm: Bei Lesekreisen lesen die Teilnehmenden die Bücher vor den Treffen, dann findet ein Meinungsaustausch statt. Beim Shared Reading dagegen werden die Texte gemeinsam und unmittelbar entdeckt. Da sie niemand vorher kennt, werden Texte laut gelesen und spontan Gedanken dazu ausgetauscht. Alles, was passiert, entsteht vollkommen frei und aus dem Moment heraus.
Muss denn jeder vorlesen?
Nein. Die Treffen sind offen und gänzlich ohne jeden Zwang. Wer nicht lesen mag, muss das auch nicht tun. Nur zuzuhören, ist auch bereichernd.
Das klingt ein wenig wie, wenn Eltern ihren Kindern vorlesen.
Shared Reading kann tatsächlich an Erfahrungen aus der Kindheit erinnern. Literatur teilt uns etwas über das Leben mit. Etwas Schönes oder Spannendes über Literatur zu erleben, funktioniert aber in jedem Alter.
Was wird beim Shared Reading gelesen?
In England, wo die Idee herkommt, spricht man von great literature. Ich würde das als bedeutungsvolle Literatur übersetzen. Die gelesenen Autoren können, aber müssen nicht bekannt sein. Ein sogenannter Facilitator wählt Texte aus, die etwas über das Leben und das menschliche Miteinander aussagen. In einer klassischen Session lesen und besprechen wir eine Kurzgeschichte und ein Gedicht.
Die Teilnehmer diskutieren also über die Fragen des Lebens?
Genau. Niemand muss etwas von sich preisgeben, aber der Gedankenaustausch kann unglaublich wohltuend sein. Ich nenne das gerne nicht-therapeutische Therapie. Häufig kommen Menschen zu den Sitzungen, die zwar Probleme haben, diese aber nicht mit einem Therapeuten besprechen wollen. Beim Lesen der Texte merken sie dann häufig, dass das Thema eines Textes sie betrifft. Das Reden darüber tut ihnen sehr gut. Beim Shared Reading wird ihnen zugehört und vielleicht stellen sie sogar fest, dass es anderen Teilnehmenden ähnlich geht. Plötzlich sind sie nicht mehr allein mit ihren Problemen.
Interview Vanessa Reiber
Was ist Shared Reading – Ein Gesprächsabend rund um das neue Leseformat: 20 Uhr, Zentralbibliothek, Am Wall 201
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