: Daumenregel führt zu Fehldiagnosen
Medizin Das Kind hat ADHS? Eine Studie zeigt, warum solche Diagnosen einer Überprüfung oft nicht standhalten
Von Christina Hucklenbroich
„Die ADHS-Lüge“, „Kindheit ist keine Krankheit“ oder „Die Kinderkrankmacher“: Die Zahl der Bücher, die kritisch hinterfragen, warum so viele Kinder und Jugendliche psychiatrische Diagnosen erhalten, ist groß. Wenige Kritiker bezweifeln ernsthaft, dass es Autismus, die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder auch manisch-depressive Symptome im Kindesalter gibt. Der Vorwurf lautet aber, die Krankheiten seien „überdiagnostiziert“: viel zu viele Kinder erhielten eine Diagnose – auch diejenigen, die die Kriterien eigentlich nicht erfüllten und gesund seien.
Über diese Kritik sind viele Ärzte und Psychologen erzürnt. Von wissenschaftlicher Seite haben sie ihr aber wenig entgegenzusetzen. Das zeigt jetzt eine große Übersichtsstudie, die in der Fachzeitschrift Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health erschienen ist. Ein Team um die Psychologin Eva Charlotte Merten von der Ruhr-Uni Bochum hat Studien aus Industrieländern ausgewertet, um herauszufinden, ob unberechtigte Diagnosen tatsächlich die Regel sind. Ihre Studie erbrachte jedoch keine klaren Belege dafür, dass zu viele Kinder eine psychiatrische Diagnose bekommen – aber auch keine, die wirklich dagegen sprechen.
Stattdessen stießen die Autoren aber auf Studien, die zeigten, dass manche Diagnosen Jahre später revidiert werden mussten. Die Kinder blieben krank – aber die Krankheit war eine andere als anfangs vermutet. Da wechselten beispielsweise Jugendliche, die zunächst als schizophren gegolten hatten, Jahre später zur manisch-depressiven Störung; in einer anderen Untersuchung zeigte sich bei der erneuten Begutachtung durch ein Spezialistenteam, dass eine Gruppe junger Patienten viel häufiger unter Tic-Störungen und Süchten litt, als man anfänglich festgestellt hatte.
Sind häufige Fehldiagnosen also das eigentliche Problem? „Die Datenlage ist noch zu dünn, um das entscheiden zu können“, sagt Eva Charlotte Merten. Nur eine Studie habe die Frage bislang „auf eine saubere Weise untersucht.“ Sie erschien 2012 und stammt von einem Team um Katrin Bruchmüller von der Uni Basel. Die Autoren legten fast 500 Psychotherapeuten Fallbeschreibungen von Kindern vor. 17 Prozent der befragten Profis diagnostizierten ADHS, obwohl die Kriterien nicht erfüllt waren. Interessanterweise neigten die Teilnehmer dazu, Jungen eher ADHS zuzuschreiben als Mädchen. „Auch Experten treffen falsche Entscheidungen“, bilanziert Merten. Sie geht davon aus, dass Informationen über auffällige Kinder im klinischen Alltag oft nicht in standardisierter Form erfragt werden, obwohl gut belegt ist, dass eine unstrukturierte Befragung zu fehlerhaften Diagnosen führt.
In der Forschung gelten die sogenannten strukturierten Interviews als „Goldstandard“ der Diagnostik. „Ärzte und Psychotherapeuten wenden stattdessen vielfach Daumenregeln an“, sagt Merten. „Dann fließen Erfahrungen ein, statt einem standardisierten Vorgehen den Vorrang zu geben und sich an Checklisten zu orientieren.“ Mertens Studie zählt zudem weitere Fehlerquellen auf: Zu wenige Informanten – Eltern oder Lehrer – werden zu Rate gezogen, oder die Rolle körperlicher Begleiterkrankungen wird nicht erkannt.
Es bleibt das Problem, dass Daten fehlen, um den Vorwurf angeblich massenhafter „Überdiagnostik“ zu belegen: „Dass dieses wichtige Thema bislang kaum erforscht wurde, hat mich selbst überrascht“, sagt Merten, die für ihre Übersicht alle großen medizinischen Datenbanken durchforstet hat.
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