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Erlebende sexueller Gewalt
betr.: „Du Opfer“, taz vom 11./12. 2. 17
Das Sprechen über sexualisierte Gewalt ist ein Minenfeld. Wenn man überhaupt Worte findet, dann solche, die mit dem Schweigen verklebt und mit Vorurteilen verseucht sind. Mit Stereotypen, Erwartungshaltungen und Ängsten. Mit Warnungen und mit Moral. Mit Rechtsfragen. Und vielem mehr.
Es ist ein großer Spagat, den Mithu Sanyal und Marie Albrecht hier versucht haben, ein Spagat über das Minenfeld, das zwischen der Anerkennung der Leiden zahlreicher Opfer sexualisierter Gewalt und der Anerkennung ihrer Kräfte liegt. Zwischen der Zurückweisung von Mit-Schuld und der Berücksichtigung ihrer Aktivität. Dass uns die Anrufung von Kraft und Stärke anrüchig erscheint, kommt also nicht von ungefähr: Allzu schnell durchziehen Schwaden der Verantwortungszuschreibung die Debatte. In dieser Welt erscheint es fast schon als Privileg, Opfer sein zu dürfen, da somit anerkannt wird, dass jemandem etwas Unrechtes angetan wurde – nur leider zahlt dieser Jemand für die Eindeutigkeit den Preis, für die allermeisten Menschen das „Opfer“ auch zu bleiben.
So kann auch diese Bezeichnung zu einer Drohung werden, die jemanden zum Schweigen bringt: ähnlich das Wort „Überlebende/r“, das dem Erlebnis selbst etwas Tödliches verleiht und jemandes Weiterexistenz etwas Unwahrscheinliches. Manche erleben das genau so, manche nicht. Die Schwierigkeit liegt darin, dass beide recht haben: das Recht, gehört zu werden. Übrigens war es da schon, dieses Wort: „erleben“.
Diejenigen, die gerade schwungvoll in Albrechts und Sanyals Spagat hineingrätschen, werden vielleicht sagen, dieses Wort sei viel zu positiv. Warum können wir nicht einfach von „Betroffenen“ sprechen? Das ist doch ausreichend neutral.
Betroffenheit als solche würde ich, im Gegensatz zu Albrecht und Sanyal, nicht als Übel bezeichnen. Aber da ist mehr. Denn etwas „betrifft“ mich nicht nur dann, wenn ich es unmittelbar erlebe oder erlebt habe, sondern es bedeutet auch, allgemeiner und umfassender: „Etwas geht mich etwas an.“ Und sexualisierte Gewalt geht jeden etwas an, insofern wir Teil dieser Welt sind, die sexualisierte Gewalt hervorbringt und den Umgang damit reguliert: Wir wachsen innerhalb normativer Vorstellungen und Verhaltensweisen auf, die uns sagen, wie viele Geschlechter es gibt, wie sie zueinander stehen, welche Konsequenzen das alles hat und ob (und wenn ja, wie) man darüber sprechen kann (darf). Das nennt man: gesellschaftliche Dimension sexualisierter Gewalt.
Dass sexualisierte Gewalt uns alle etwas angeht, und zwar unabhängig von individuellen Erlebnissen, verstehen wir vielleicht erst, wenn uns klar wird, wie wir Opfer in ihrem Opferdasein festhalten, indem wir sie als solche bezeichnen.
Sie stattdessen „Erlebende sexueller Gewalt“ zu nennen, ist vielleicht noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Laura Böckmann, Tübingen
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