Stadtentwicklung in New York: Schutzheilige von Greenwich Village

Die neue Unwirtlichkeit der Städte: Die Kritik und vor allem die Visionen der Stadtaktivistin Jane Jacobs sind heute wichtiger denn je.

Ein Gebäude

Die Gegend, in der Jane Jacobs heute wohnt Foto: Stefan Falke

In Greenwich Village beginnt der Tag gelassener als anderswo in Manhattan: Im Mucho Gusto Café blättern die Stammgäste beim Chai Pumpkin Latte in aller Ruhe in der Times, ein junger Mann in Kampfstiefeln, knielangem Faltenrock und mit wuchtigem Fuchspelzkragen schlendert mit einer teuren Aktentasche die Hudson Street herunter, und ein Gespann von Möpsen, französischen Bulldoggen und einem Königspudel zieht hechelnd einen Dogwalker hinter sich her. Aber der unablässige Strom der Radfahrer, die zügig in Richtung der Wolkenkratzer von Midtown fahren, verleiht dem gemächlichen Morgen dann doch seine New Yorker Zielstrebigkeit.

1961 beschrieb Jane Jacobs in ihrem revolutionären Buch „The Death and Life of American Cities“ an ebendiesem Ort das alltägliche „Bürgersteig-Ballett“ ihrer Nachbarschaft: Der Besitzer des Lebensmittelladens nebenan stapelt die leeren Kisten vom Vortag aufeinander, der Barbier bringt seinen Klappstuhl nach draußen, Mr. Goldstein arrangiert die Drahtspulen im Schaufenster seiner Eisenwarenhandlung, während elegant gekleidete Damen und distinguierte Geschäftsmänner aus den Brownstones der Seitenstraßen auf die Bühne der Avenue treten.

Die legendäre, über mehrere Seiten reichende Passage de­stil­liert eine grundlegende Ordnung aus dem Tumult individueller Aktivitäten: Die Stadt selbst – ihre Architektur, ihr Straßenraster, die Formation ihrer Häuserblöcke, ihre Mischung aus Kommerz und Wohnen – inszeniert die komplexe Choreografie. Jacobs verdankte ihre bahnbrechenden Einsichten in das Wesen der Metropole weniger akademischen Studien und Statistiken als der minutiösen Beobachtung des Alltags ihrer unmittelbaren Umgebung.

Mitgestaltung der Bewohner

Und nicht zuletzt der Überzeugung, dass den Einwohnern mehr Autorität über die Gestaltung und soziale Organisation ihrer Nachbarschaft zustehen sollte als den Architekten und Städtebauern. Von Ben Carson, den Trump gerade zum Minister für Wohnungswesen und Stadtplanung ernannt hat und der sich allein durch ein paar Kindheitsjahre in einer Sozialwohnungssiedlung für den Posten qualifiziert wähnt, hätte sie auch die Unterstützung unterprivilegierter Mitbürger durch integrativen Wohnungsbau verlangt. „Fair Housing“ bedeutete für Jacobs die Koexistenz unterschiedlicher Einkommensgruppen auf engem Raum – der ehemalige Neurochirurg versteht darunter jedoch „obligatorische So­zial­technik“ wie im Kommunismus.

Jane Jacobs mit ihrer Zivilcourage, ihrer Lust an der Unfolgsamkeit und ihrer Vision von der Großstadt als einem ebenso gewaltigen wie filigranen Organismus ist heute wichtiger denn je: Wenn Banken und immer ­gleiche Ladenketten überall eine desorientierende Monotonie verbreiten, wenn die Hundert-Millionen-Dollar-Apartments in neunzigstöckigen Glastürmen 350 Tage im Jahr unbewohnt sind, wenn sich Innenarchitekten auf Mikroapartments vom Ausmaß einer Gefängniszelle spezialisieren und Einkommensschwache wegen einer nie da gewesenen Wohnungsnot zugunsten der Mittelklasse aus ­ihren verkommenen Mietskasernen vertrieben werden, sind ihre Schriften ein Aufruf zum Widerstand.

Die 400-seitige Biografie „Eyes on the Street“, eine Anthologie kurzer Texte mit dem Titel „Vital Little Plans“ und die im März uraufgeführte Oper „A Marvelous Order“ zeichnen das Porträt einer furchtlosen Frau, die sich die Zerstörung ihrer geliebten Stadt nicht gefallen ließ. Selbst von dem mächtigen Robert Moses, der das New York des 19. Jahrhunderts im Dienste einer modernen, dem Auto geweihten Utopie niederreißen wollte, ließ sich die Tochter eines prominenten Arztes und einer emanzipierten Krankenschwester nicht ­einschüchtern.

Vom Straßenraster abgeschnittene Wohnsilos inmitten struppiger Grünflächen als Brutstätten sozialer Pathologien

Fasziniert vom unauffälligen Miteinander

Als Jane Butzner 1934 aus der Industriestadt Scranton nach Brooklyn zog, erschien ihr Manhattan als ein verwirrendes, beglückendes Chaos. Für die Vogue schrieb sie Artikel über den Pelzhandel, über das Blumenviertel, den Diamantendistrikt, die Lederindustrie. Auf einer ihrer Erkundungsfahrten mit der U-Bahn landete sie an der Christopher Street – und fand ihre künftige Heimat inmitten der künstlerischen und politischen Avantgarde des Village.

Corner Bistro: 331 West 4th Street, Wirt und Hamburger alter Schule, ein ungeniertes Cholesterin-Fest im klassischen Spelunkendunkel der Villageboheme, so gut wie touristenfrei. cornerbistronyc.com

The White Horse Tavern: 567 Hudson Street, zur „Academy of Poets” avancierte Kneipe von 1880, wo sich Dylan Thomas zu Tode trank, authentisches Dekor und 50 Meter von Jacobs’ Haus entfernt. whitehorsetavern1880.com

The Monster: 80 Grove Street, traditionelle Schwulenbar mit von singenden Gästen umringten Piano, Tea Dance am Sonntag, Gogo-Boys und Drag-Shows im Keller. manhattan-monster.com. Direkt gegenüber vom nun denkmalgeschützten Stonewall Inn, 53 Christopher Street der Geburtstätte der amerikanischen Schwulenbewegung. thestonewallinnnyc.com

Three Lives Bookstore: 154 West 10th Street, eine literarische Oase, ein Amazon-Überlebenskünstler und mit seinem belesenen bibliophilen Personal ein stolzer Anachronismus.

Mit der heute längst vertriebenen Boheme dieser Ära, deren Mythos weiterhin die Immobilienpreise hebt, hatte sie wenig Kontakt. Vielmehr faszinierten sie jene unauffälligen Bürger, die das reibungslose Funktionieren ihres Viertels garantierten. In der Nachkriegszeit, als die Suburbs an Beliebtheit gewannen und amerikanische Metropolen unter Vernachlässigung zu leiden begannen, als ökonomische Monokulturen wie die Autoindustrie in De­troit ihrem Niedergang entgegensteuerten, als die Kriminalität zunahm und die Straße vom gemeinsamen zivilen Raum zur Gefahrenzone mutierte, verteidigte sie unermüdlich die Qualitäten der Megacity.

Für Jacobs ist der Bürgersteig die Seele der Stadt: In dieser öffentlichen Sphäre summiert sich eine Vielzahl trivialer Interaktionen zwischen Nachbarn, Ladenbesitzern und Restaurateuren zu einem keineswegs trivialen Vertrauen, das „man nicht durch Institutionen kultivieren kann“ und das niemandem eine Verpflichtung zu privater Nähe abverlangt: Jede Metropole ist eine Ansammlung von Mikrodörfern, deren Mischung aus Freundlichkeit und Anonymität vor Provin­zia­lität bewahrt.

Als Jacobs 1956 ihre Kritik an der Vervorstädterung der City, an Hochhaussiedlungen, Grüngürteln, Satellitenstädten und gewaltsamen Verschönerungsaktionen auf der allerersten Stadtplanungskonferenz an Harvard vor Stararchitekten wie Richard Neutra und José Luis Sert vortrug, initiierte sie den sogenannten Density Turn: die Einsicht in die Wichtigkeit urbaner Konzentration. Mit dem Klimawandel wurde ihr Beharren auf der Mischung aus Wohnen und Gewerbe und vor allem ihr Lob für „überschäumende Dichte“, die nicht nur eine Aura von Energie generiert, sondern auch tatsächlich Energie spart, zum Mantra.

Verstoß gegen die ordnungsliebende Moderne

Doch Mitte des 20. Jahrhunderts verstieß Jacobs mit ihren Thesen gegen die ordnungsliebende Moderne, die alte, organisch gewachsene Städte zu großen Teilen als ungesunde, unhygienische Slums betrachtete: Die „Megalopolis, Tyrannopolis, Nekropolis“ war nichts als „versteinertes Chaos“, das neuen Siedlungen und gepflegten Grünflächen weichen sollte – „Gras, Gras, Gras“, stöhnt Jacobs in der Einleitung zu „Death and Life“ und beklagt die Friedhofsatmosphäre ehemals lebendiger Gegenden.

Le Corbusier, dessen Ville Radieuse das Modell für den sozialen Wohnungsbau lieferte, ist einer jener idealistischen Denker, die sich bei Jacobs als „zwanghafte Manager der Freizeit anderer Leute“ unbeliebt machten. Etliche Besuche des George Washington Housing Project in East Harlem überzeugte sie davon, dass diese isolierten, vom Straßenraster abgeschnittenen Wohnsilos inmitten struppiger Grünflächen als Brutstätten sozialer Pathologien fungierten. „Niemand fragte uns, was wir wollten, als man diese Siedlung baute. Man riß unsere Häuser ab und schob uns hierhin und unsere Freunde dorthin ab. Nirgendwo kriegt man hier auch nur einen Kaffee oder eine Zeitung“, zitiert Jacobs eine verbitterte Mieterin.

Wie die meisten wider Willen verpflanzten Bewohner dieser unkommunikativen Neubauten suchte auch sie noch immer ihre alte Nachbarschaft auf: Rund 1.500 kleine Geschäfte und Betriebe – vom Candy Store über den Friseur bis zu den Fleischereien – wurden durch das George Washington Project und ähnliche Siedlungen allein in East Harlem vertrieben – und nie ersetzt. Selbst Kirchen fielen der neuen Ordnung zum Opfer.

Strategin der Rettungskampagnen

Als jedoch das ambitionierte, von Minoru Yamasaki (dem späteren Architekten des World Trade Center) in St. Louis gebaute und bald zum Inbegriff von Vandalismus und Kriminalität verkommene Pruitt-Igoe Housing Project 1972 gesprengt wurde, fand Jacobs die symbolträchtige Aktion verschwenderisch: Sie plädierte dafür, diese abgekapselten ­Armutsfestungen in das Gewebe der Stadt einzuflechten, statt 12.000 Menschen aus ihrem vertikalen Getto zu vertreiben.

Vorigen Dezember schließlich hielten Architekten und Stadtplaner am Cooper Union College in New York ein Symposium zur Restaurierung und Verbesserung der nun als wertvoll, ja unersetzlich erkannten Bausubstanz alter Sozialbauten in London, Paris und Toronto ab.

Den Bau des Lincoln Center, der die Exilierung von 15.000 Bewohnern der berüchtigten „Hells Kitchen“ verlangte, konnte Jacobs nicht verhindern, und tatsächlich ist der Komplex um die Metropolitan Opera nicht unbedingt ein öder „Superblock“. Doch als sich 1958 die Pläne zur Zerstörung des Washington Square Park konkretisierten, übernahm sie eine führende Rolle als Strategin der Rettungskampagne.

Schon in den 30er Jahren hatte Robert Moses dieses Verkehrshindernis am Fuße der Fifth Avenue, von dessen Triumphbogen Marcel Duchamp und der Maler John Sloan 1917 die unabhängige Republik Greenwich ausgerufen hatten, eliminieren wollen. Als die Aktivisten die heute undenkbare Zerstörung des Village-­Juwels schließlich verhinderten, wetterte der erfolgsverwöhnte Moses, dass sich „niemand, niemand, niemand, außer einem Haufen von Müttern!“ gegen seinen grandiosen Plan gewehrt habe.

Moses verglich seine Ausmerzung der zu Slums degradierten Bezirke mit Georges-Eugène Haussmanns radikaler Erneuerung von Paris im 19. Jahrhundert. „Man kann kein Omelett braten, ohne Eier zu zerbrechen“, lautete sein Leitspruch.

Wuchermieten töten die Idylle

Doch Jacobs empfand seine Schnellstraßen als mit der Machete geschlagene Wunden, die zur „Los-Angelesierung“ ihrer Stadt führten. Als 1960 vierzehn Häuserblocks in ihrer eigenen Nachbarschaft den Bulldozern zum Opfer fallen sollten, verwandelten sie und ihr Mann – der progressive Krankenhausarchitekt Robert Jacobs – Wohnzimmer und Küche in eine Einsatzzentrale: Die Klingel wurde abgestellt, die Haustür blieb offen, die Mitstreiter kamen zu jeder Tages- und Nachtzeit, mischten sich ihre eigenen West-Village-Martinis – und siegten. Der erste, ausschlaggebende Schritt war die Aufhebung der Klassifizierung als Elendsviertel gewesen.

Jacobs’ letzte Schlacht in Manhattan galt der Verhinderung des Lower Manhattan Expressway (Lomex), einer achtspurigen Schneise durch Little Italy und das heute denkmalgeschützte SoHo. In den Künstlern, die Fabriketagen als Ateliers kolonisierten, fand sie treue Alliierte.

Bei einer wilden Versammlung gegen den Lomex wurde Jacobs 1968 verhaftet, wie schon zuvor bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Ihre drei Kinder hatte sie im Geist zivilen Ungehorsams erzogen, ihnen warme Unterwäsche für winterliche Friedenskundgebun­gen gekauft, sie zum Plakatieren angeheuert und sie angestiftet, in nächtlichen Aktionen Sicherheitszäune zu entfernen, ohne die Gebäude nicht abgerissen werden durften. Nun bestand die Gefahr, dass ihr bald achtzehnjähriger Sohn Ned eingezogen würde, und Jane drohte womöglich eine Gefängnisstrafe. So floh die Familie heimlich im Juni 1968 in einem klapprigen VW-Bus nach Toronto. Und kaum ließ sie sich dort an der Spadina Street nieder, protestierte Jane gegen den geplanten Spadina Expressway: Er wurde nicht gebaut.

Bob und Jane hatten ihr schma­les Haus im Village Ende der vierziger Jahre für 7.000 Dollar gekauft – 2008 kam 555 Hudson Street für 3,5 Millionen auf den Markt. Im Parterre sitzt jetzt der Immobilienmakler Next Step Realty. Daneben ein leer stehendes Ladenlokal mit eleganter Pforte, dann Perry’s News & Grocery, um zehn Uhr früh immer noch und bald sicherlich ganz geschlossen. Mit ihren schwarzen Plastikplanen tragen die Schaufenster von Nummer 557 längst Trauer: Wie überall in New York können kleine Unternehmen die Wuchermieten nicht bezahlen, die Hausbesitzer genießen dagegen Steuervergünstigungen für den Einkommensverlust und warten entspannt auf eine Starbucks-Filiale oder die Schokoladenboutique, die ein Investor seiner Frau spendiert – das Corps de Ballet tritt hier schon lange nicht mehr auf.

Der schmucke Park ein wenig nördlich ist eine Bereicherung für das früher kaum begrünte Village, nur sind die Bänke von Obdachlosen besetzt – erst in den 70ern wurden die Homeless zum Schatten der wachsenden Gier, heute sind es über 60.000. Aber über den neuen Fahrradweg würde sich die 2006 verstorbene „Schutzheilige des Village“ freuen und sogleich zum Trump Tower radeln – um vier Uhr früh käme dann ein Tweet, und das wäre ein guter Anfang.

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