: Den Wandel festhalten
FOTOGRAFIE Urbane Arrangements: Die Ausstellung „Berliner Bestandsaufnahmen“ zeigt mit Bildern vonVerena Pfisterer, Toni Sachs Pfeiffer, Harald Hauswald und Jutta Matthess ein Berlin, das es so nicht mehr gibt
von Beate SchEder
Liegt da einfach und grinst einen an. Die leeren Augen weit aufgerissen, den Mundwinkel rechts ein wenig höher gezogen als links: ein Paket in Plastik eingeschweißte Gesichtswurst. Irgendwer hat es neben einem Laternenmast auf dem Pflaster abgelegt, verloren vielleicht, aber wer weiß das schon? Oder dieser Goldjunge im Bierkrug, Markensymbol von Berliner Kindl, der vom Schild der Eckkneipe, hinter der Fußgängerampel aus dem Grau-in-Grau des Betons lugt.
Es sind diese absurden urbanen Arrangements, die man entdecken kann, wenn man aufhört, schnurstracks geradeaus zu gehen und sich stattdessen umschaut in der Stadt, in Berlin. Verena Pfisterer hat das gemacht, jahrzehntelang. 1967 zog die Künstlerin von Düsseldorf nach Berlin, kurze Zeit später begann sie zu fotografieren, unentwegt. In ihren zahllosen Aufnahmen hat sie das Alltägliche eingefangen, das ihr auf den Straßen begegnet ist: mit Parolen beschmierte Häuserfassaden, Schaufenster, Werbetafeln, Hinterhöfe, Straßenszenen, Nebensächliches, Triviales, Komisches. Das Bild von der Gesichtswurst hat sie 1998 aufgenommen, das von der Eckkneipe stammt von 1985.
Es ist ein kleiner Schatz, den Silke Nowak, selbst Künstlerin, Kuratorin und Mitgründerin des nomadischen Berliner Kunstraums Schneeeule, da ausgehoben hat. Noch niemand zuvor hat die Fotos von Pfisterer gezeigt. Nun stellt Nowak sie unter dem Titel „Berliner Bestandsaufnahmen“ aus, zusammen mit Positionen dreier weiterer Fotograf_innen, Zeitgenoss_innen, Geschwistern im Geiste beziehungsweise hinter der Linse, wenn man so will: Jutta Matthess, Toni Sachs Pfeiffer und der wohl Bekannteste unter ihnen, der Ostberliner Fotograf und Ostkreuz-Mitgründer Harald Hauswald.
Pfisterer (1941–2013) war eine eigenwillige Künstlerin, deren Namen zu Unrecht nur wenige kennen. Bereits in den 60ern hatte sie sich vom Ausstellungsbetrieb und seinen festgefahrenen Strukturen abgewandt und fortan ihre Objekte und Zeichnungen, später die Fotografien nur noch für sich selbst und für ihre Forschungen, unter anderem zur Geschichte und Ästhetik des Alltags, angefertigt. Entdeckt wurde sie erst wieder peu à peu nach der Jahrtausendwende, zumindest ihre Objekte und Zeichnungen. Nowak hat sich bereits seit einiger Zeit mit Pfisterer beschäftigt und schon mehrfach Arbeiten von ihr ausgestellt, etwa in der Galerie Exile. Ihre Fotografien wählte sie nun zum Ausgangspunkt einer Gruppenausstellung.
Auf Toni Sachs Pfeiffer machte der Sohn Pfisterers Nowak aufmerksam, gab ihr deren Buch „Nutzungsspuren Berlin Kreuzberg“. Sachs Pfeiffer (1942–2005) dokumentiert darin mit Interviews und Fotografien ihre Untersuchungen dazu, wie Menschen den öffentlichen Raum durch (Um-)Nutzung weiterentwickeln. Noch so ein Schatz. Geschätzte 200.000 Fotografien und zahlreiche Super-8-Filme hat Sachs Pfeiffer einst aufgenommen. Wie die Bilder Pfisterers bilden sie den Berliner Alltag der 1970er und 80er Jahre ab, jedoch mit anderem Fokus. Auf den Fotos und Filmen Sachs Pfeiffers zeigen Menschen, die auf Pollern sitzen oder neben Laternenpfählen warten, Blumen vor oder Kissen hinter Fenstern, Möbel auf der Straße, Wäscheleinen, die in Häusernischen gespannt sind. Sie dokumentieren, wie Menschen mit dem Raum umgehen und ihn nutzen, manchmal entgegen dem, wie er ursprünglich geplant war. Auf den Super-8-Filmen, in der Ausstellung ebenfalls zu sehen, folgt Sachs Pfeiffer im Zeitraffer den Strömen der Menschen, macht ihre Wege durch die Straßen, Plätze, Höfe, Läden sichtbar.
Betrachtet man die Arbeiten aller vier Fotograf_innen heute, sieht man mehr als nur die teils anrührenden, teil schrägen, teils trivialen Motive. Vor allem sieht man ein Berlin, das es so nicht mehr gibt, das liebenswert absonderliche Berlin, das das Interesse von Sachs Pfeiffer und Pfisterer weckte und heute zu großen Teilen weggentrifiziert ist, das Ostberlin Harald Hauswalds aus den 1980er Jahren und das Kreuzberg der 1970er Jahre, den Zeiten der Kahlschlagsanierung, das Jutta Matthes fotografierte und filmte: Häuserruinen und Baustellen, mehr noch aber die Menschen dazwischen, spielende Kinder, Familien, die im Sperrmüll nach Brauchbarem oder Brennholz suchen, Hausbesetzer, Kiezbewohner jeglicher Couleur.
Den Titel „Berliner Bestandsaufnahmen“ hat Nowak mit Bedacht gewählt. Die Bilder halten den Wandel fest, dokumentieren, was nicht mehr da ist, die vielen Freiräume zum Beispiel, die alle vier immer wieder in den Fokus nehmen. Oder auch diese Unbeschwertheit, mit der die Kinder über die Straße tollen und auch mit der die Fotograf_innen die Kamera darauf halten. Sie schärfen aber auch den Blick, auf das, was noch da ist, auf kauzigen Einzelhandel, auf Improvisiertes und Umgenutztes.
Zu sehen ist die Schau an einem Ort, der passender nicht gewählt sein könnte. Nowak hat sich in einem Ausstellungsraum im Zentrum Kreuzberg, der Betonfestung am Kottbusser Tor, eingemietet, erbaut in den 1970er Jahren, seinerzeit noch unter dem Namen Neues Kreuzberger Zentrum, ein Symbolbau, damals wie heute. Im Film von Jutta Matthess taucht er kurz auf.
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